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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


ihm den nothdürftigsten Lebensunterhalt, und er gewann Zeit, sich seinen schwärmerischen Neigungen hinzugeben.

Einsam durchstrich er die Wälder. Er sprach für sich allerlei tolles Zeug hin, sang Synagogenlieder, recitirte Gebete, und das Echo antwortete ihm aus Höhlen und Klüften. In seiner überreizten Phantasie glaubte er himmlische Stimmen in diesen Echorufen zu vernehmen. Er wähnte sich in unmittelbarem Verkehr mit Gott und mit den Engeln, und in gesteigerter Ekstase hatte er förmliche Visionen, führte mystische Reden und glaubte sich im Besitze der Gabe, „in die Zukunft sehen zu können“. Die Ausgeburten seiner krankhaften Einbildung erfüllten seine Seele, und mit tiefster Innigkeit glaubte er an die Wahnvorstellungen, die sie ihm vorgaukelte. Er trug in sich das Bewußtsein, ein auserwählter, gottbegnadeter, seinen Mitmenschen überlegener Mensch zu sein.

Bei all’ seiner verzückten Schwärmerei und bei all’ seinem verworrenen Gemüthsleben war Israel doch des praktischen Lebensinstinctes seines Stammes zu voll, um an dem thatenlosen Hinträumen an den Quellen des Pruth für die Dauer Gefallen zu finden.


Bethaus des Groß-Rabbiners von Sadagóra.


Er ging nach Podolien und ward dort Lohnfuhrman, später Pferdehändler und pachtete zuletzt eine Dorfschenke in Miedziboz (Podolien). In dem beschaulicheren Leben dieses stätigeren Berufes steigerte sich seine religiöse Exaltation. Als Wunderdoctor hatte er starken Zulauf und viel Glück, und einige zufällig eingetroffene Prophezeiungen verliehen ihm auch starkes Prophetenansehen. Christen so gut wie Juden, von weiter Ferne und alle Stände vertretend, wallfahrteten gläubig zu dem Wundermann in Miedziboz. Jene hatten die Jesuiten, diese die Kabbalisten für solche Gläubigkeit gehörig präparirt.

Nothwendiger Weise mußte seine Ekstase in ihm eigene religiöse Anschauungen bilden. Ohne die Gelehrsamkeit zu besitzen, welche im rabbinischen Judenthum die Grundlage und den eigentlichsten Inbegriff der Religiosität bildete, wußte er sich doch bei Gott in höherer Gnade und Gunst als die gelehrtesten Rabbiner und gefeiertesten Talmudisten. Die Folge hiervon war, daß er diese Grundlage der Religiosität negirte. Selbst derb und einfach, wenn er nicht gerade in Ekstase war, lustig und aufgeräumt, ein Freund von Späßen, konnte er in den Kasteiungen und Bußübungen, die das rabbinische Judenthum seinen Bekennern auferlegt, nicht den Weg zur göttlichen Gnade erblicken, die ja ihm, der sich nicht kasteiete, wie er überzeugt war, wie keinem Mitlebenden sonst, voll zu Theil geworden. „Man muß Gott in Fröhlichkeit dienen,“ sagte er, und die Gläubigen, die sich in seiner Schenke immer zahlreicher zusammenfanden, verrichteten die Andacht unter possirlichen Sprüngen, fröhlichem Singen, übermüthigem Händeklatschen und flochten nicht selten derbe Späße und plumpe Neckereien ein. Dieser Andacht maß aber Israel große Heilskraft bei. Nach seiner Meinung wohnt dem Gebet eine mystische Gewalt inne; er hatte davon eine Vorstellung wie von einer Zauberformel, wie sie in den Märchen, die er als Knabe in den Bauernhütten gehört, vorgekommen. Wie ein ordentlicher Hexenmeister oder Zauberer den Teufel durch Spruch und Bann zu seinem Dienste zwingen kann, so bildete er sich ein, durch sein Gebet Gott zur Erfüllung seiner Wünsche zwingen zu können. „Das Gebet,“ lehrte er, „ist eine innige, eine eheliche Verbindung des Menschen mit Gott.“ Der Kraft seines Gebetes trauete er alles zu. Indem er jenen, die bei ihm Hülfe suchten, die Hand auflegte und eine Gebetformel hersagte, glaubte er Gott zur Leistung dieser Hülfe zwingen zu können. Von dieser seiner Wunderkraft erhielt er den Beinamen „Bal-Schem“, der „Herr Gottes“.

So ungeheuerlich und gotteslästerlich dieser Wahnwitz auch war, er fand rasch zahlreiche Gläubige. Der Sabateismus hatte die polnischen Juden in religiöse Erregtheit versetzt und sie mit der Erwartung naher messianischer Erlösung erfüllt. In solcher Zeit ist das Gemüth für die verrücktesten religiösen Ideen voll gläubiger Empfänglichkeit. Als Israel von Miedziboz (1750) starb, hinterließ er bereits eine Secte von mehr als zehntausend Mitgliedern. Er starb arm; von den reichen Geschenken, die ihm gespendet wurden, hatte er nichts für sich behalten; er hatte alles an die Dürftigen vertheilt. Seine Söhne und Schwiegersöhne erbten nicht sein Ansehen; sie verschollen. Ein Mann, der den „Bal-Schem“ (in der hebräischen Buchstabenkürzung dieses seines Beinamens wurde er auch „Bescht“ genannt) erst kurz vor dessen Ableben kennen gelernt hatte, ward sein Nachfolger.

Dieses neue Oberhaupt der jungen Secte hieß Dob Beer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_457.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)