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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


jungen Mannes daran verhindert, der die Thür öffnete oder sie vielmehr aufstieß, um sie dann in der rücksichtslosesten Weise wieder in’s Schloß fallen zu lassen. Er war im Jagdanzuge, hatte einen großen Jagdhund neben sich und die abgeschossene Flinte in der Hand. Ohne Gruß, ohne Entschuldigung wegen seines gewaltsamen Auftretens, ging er auf Witold zu, stellte sich dicht vor ihn hin und sagte triumphirend:

„Nun, wer hat Recht? Du oder ich?“

Der Gutsherr war wirklich zornig. „Ist das eine Art, den Leuten über die Köpfe wegzuschießen?“ rief er hitzig. „Man ist ja vor Dir seines Lebens nicht mehr sicher. Willst Du den Doctor und mich durchaus aus der Welt schaffen?“

Waldemar zuckte die Achseln. „Warum nicht gar! Meine Wette wollte ich gewinnen. Du behauptetest ja gestern, ich würde von draußen den Nagel nicht treffen, an dem der Zwölfender hängt – da sitzt die Kugel.“

Er wies nach der Wand hinauf. Witold folgte der Richtung.

„Wahrhaftig, da sitzt sie,“ sagte er voll Bewunderung und gänzlich versöhnt. „Doctor, sehen Sie nur, aber was ist Ihnen denn?“

„Herr Doctor Fabian hat wahrscheinlich wieder seine Nervenzufälle,“ sprach Waldemar höhnisch, indem er seine Flinte bei Seite stellte, aber keine Miene machte, seinem Lehrer beizustehen, der halbohnmächtig von dem Schreck in das Sopha zurückgesunken war und noch an Händen und Füßen zitterte. Der gutmüthige Witold richtete ihn auf und redete ihm nach Kräften zu.

„Erholen Sie sich doch! Wer wird denn gleich ohnmächtig werden, weil ein wenig Pulver verknallt ist; die Geschichte ist ja nicht der Rede werth. Es ist wahr, wir hatten gewettet, aber wie konnte ich denn wissen, daß der Junge die Sache auf so unvernünftige Weise in’s Werk setzen würde. Anstatt uns hinauszurufen, damit wir in aller Ruhe zusehen können, feuert er uns ohne Weiteres in die Stube hinein. – Ist Ihnen nun besser? Gott sei Dank!“

Doctor Fabian war aufgestanden und bemühte sich, sein Zittern zu beherrschen, es wollte ihm aber noch nicht gelingen.

„Sie hätten uns erschießen können, Waldemar!“ sagte er mit bleichen Lippen.

„Nein, Herr Doctor, das hätte ich nicht thun können,“ versetzte Waldemar in wenig ehrerbietigem Tone. „Sie standen mit dem Onkel vor dem Fenster zur Rechten, und ich schoß durch das zur Linken, mindestens fünf Schritt seitwärts. Sie wissen doch, ich fehle nie.“

„Künftig aber läßt Du das bleiben,“ erklärte Witold, mit einem Versuche, die Autorität des Vormundes geltend zu machen. „Der Kukuk kann doch einmal mit solcher Kugel sein Spiel treiben, und dann ist das Unglück fertig. Ich verbiete Dir einfür allemal das Schießen auf dem Hofe.“

Der junge Mann schlug trotzig die Arme übereinander. „Das kannst Du, Onkel, aber gehorchen thue ich nicht. Ich schieße doch.“

Er stand vor seinem Pflegevater wie das verkörperte Bild des Trotzes und der Unbändigkeit. Waldemar Nordeck zeigte in seinem Aeußeren den echt germanischen Typus, auch nicht der kleinste Zug erinnerte daran, daß die Mutter einem anderen Volke entstammte. Der hohe, fast riesige Wuchs überragte selbst die stattliche Gestalt Witold’s noch um einige Zoll, aber dem Körper fehlte das Ebenmaß; jede Linie trat scharf und eckig hervor. Das blonde Haar schien in seiner überreichen Fülle eher eine Last für den Kopf zu sein, denn es fiel tief in die Stirn herab und wurde von Zeit zu Zeit mit einer ungeduldigen Bewegung zurückgeworfen. Die blauen Augen hatten einen finsteren Ausdruck, und in Momenten der Gereiztheit, wie jetzt, gewann der Blick sogar etwas Feindseliges. Das Gesicht war entschieden unschön, auch hier zeigte sich jede Linie scharf, unvermittelt – nichts mehr von den weicheren Formen des Knaben, aber auch noch nichts von den festen Zügen des Mannes, der Uebergang trat hier in fast abstoßender Gestalt auf, und die Verwilderung, die sich schon in dem Aeußern des jungen Mannes kund gab, die gänzliche Hintenansetzung aller Formen, diente nicht dazu, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, den die ganze Erscheinung machte.

Herr Witold gehörte offenbar zu jenen Menschen, deren Persönlichkeit und Auftreten eine Energie voraussetzen läßt, von der sie in Wirklichkeit auch nicht das Geringste besitzen. Anstatt dem Trotze und der Ungezogenheit seines Mündels in entschiedener Weise entgegenzutreten, fand der Herr Vormund es für gut, nachzugeben.

„Ich sagte es Ihnen ja, Doctor, der Junge parirt auch mir nicht mehr,“ meinte er mit einer Gemüthsruhe, die da zeigte, daß dies der gewöhnliche Ausgang solcher Differenzen war, und daß, wenn es dem jungen Herrn beliebte, einmal Ernst zu machen, der Pflegevater ebenso machtlos war, wie der Erzieher.

Waldemar kümmerte sich um Beide nicht weiter. Er warf sich der Länge nach auf das Sopha, ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß seine vom Sumpfwasser durchnäßten Stiefeln in Berührung mit den Polstern kamen, während der große Jagdhund, der jedenfalls im Wasser gewesen war, dem Beispiele seines Herrn folgte und es sich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit auf dem Teppiche bequem machte.

Es entstand jetzt eine etwas unbehagliche Pause. Der Gutsherr versuchte brummend seine inzwischen ausgegangene Pfeife wieder in Brand zu setzen, Doctor Fabian aber hatte sich an das Fenster geflüchtet und schickte einen Blick zum Himmel, der deutlicher als Worte aussprach, daß er das Leben hier wirklich für eine „heillose Wirthschaft“ erachtete.

Der Gutsherr hatte inzwischen nach seinem Tabaksbeutels gesucht, den er denn auch richtig auf dem Schreibpulte unter den Sporen und Reitpeitschen entdeckte. Im Begriffe, ihn hervorzuziehen, fiel ihm ein noch uneröffnetes Schreiben in die Hand; er nahm es auf.

„Das hätte ich beinahe vergessen! Waldemar, da ist ein Brief an Dich.“

„An mich?“ fragte Waldemar gleichgültig, aber doch mit jener Verwunderung, die ein ungewöhnliches Ereigniß hervorruft.

„Jawohl. Eine Krone im Siegel und ein großes Schild mit allerhand Wappengethier. Wird wohl von der Fürstin Baratowska sein. Es ist freilich lange her, seit wir mit einem allergnädigsten Handschreiben beehrt wurden.“

Der junge Nordeck erbrach den Brief und durchflog ihn. Er schien nur wenige Zeilen zu enthalten, aber trotzdem stieg auf der Stirn des Lesenden so etwas wie eine Wetterwolke auf.

„Nun, was giebt es?“ fragte Witold. „Sitzt die Verschwörergesellschaft noch immer in Paris? Ich habe den Poststempel nicht angesehen.“

„Die Fürstin ist mit ihrem Sohne drüben in C.,“ berichtete Waldemar; er schien die Bezeichnung Mutter und Bruder absichtlich zu vermeiden. „Sie wünscht mich dort zu sehen; ich werde morgen hinüberreiten.“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Gutsherr. „Hat sich die hochfürstliche Verwandtschaft jahrelang nicht um Dich gekümmert, so braucht sie es auch jetzt nicht zu thun. Wir fragen wahrhaftig nichts danach – Du bleibst hier.“

„Onkel, jetzt ist es genug mit dem ewigen Befehlen und Verbieten,“ brach Waldemar auf einmal mit solcher Wildheit los, daß Jener ihn mit offenem Munde anstarrte. „Bin ich ein Schulknabe, der bei jedem Schritte erst um Erlaubniß fragen muß? Habe ich mit einundzwanzig Jahren nicht einmal das Recht, selbst über die Zusammenkunft mit meiner Mutter zu entscheiden? Ich habe bereits darüber entschieden, und morgen früh reite ich nach C.“

„Nun, nun, nur nicht gleich so bärenwüthig!“ sagte Witold, mehr erstaunt als erzürnt über diesen plötzlichen Ausbruch eines Jähzorns, den er sich gar nicht erklären konnte. „Meinetwegen reite, wohin Du willst! Ich will nichts mit der Polengesellschaft zu thun haben, das sage ich Dir.“

Waldemar hüllte sich in trotziges Schweigen; er nahm seine Flinte, pfiff seinem Hunde und verließ das Zimmer. Der Vormund sah ihm kopfschüttelnd nach, auf einmal aber schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er nahm den Brief, den Waldemar achtlos auf dem Tische hatte liegen lassen, und las ihn gleichfalls durch. Jetzt war es Herr Witold, der bei der Lectüre die Stirn runzelte und bei dem schließlich ein Ungewitter losbrach.

„Dachte ich es doch!“ rief er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. „Das sieht der Frau Fürstin ähnlich. In sechs Zeilen stachelt sie den Jungen zur Empörung gegen mich auf;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_462.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)