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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Der Winter war mit seiner vollen Strenge hereingebrochen. Die dichte Schneehülle deckte Wald und Feld; eine schwere Eisdecke hemmte den Lauf des Flusses, und über die erstarrte Erde brausten die Winterstürme mit eisigem Hauch.

Sie hatten diesmal noch einen anderen Sturm wachgerufen, der schlimmer tobte, als die Elemente. Jenseits der Grenze war der lang gefürchtete Aufstand endlich losgebrochen. Das ganze Nachbarland loderte in voller Empörung, und jeder Tag brachte neue Schreckensnachrichten von drüben her. Auf diesseitigem Gebiete war noch alles ruhig, und es hatte auch den Anschein, als ob diese Ruhe aufrecht erhalten bleiben sollte, aber friedlich war die Stimmung in den Grenzdistricten dennoch keineswegs, wo tausend Beziehungen und Verbindungen hinüber und herüber gingen, wo kaum eine polnische Familie lebte, die nicht wenigstens einen Angehörigen drüben in den Reihen der Kämpfenden hatte.

Am schwersten hatte Wilicza unter dieser Stimmung zu leiden; schon seine Lage machte es zu einem der wichtigsten, aber auch gefährlichsten Vorposten der ganzen Provinz. Es spielte nicht umsonst eine so wichtige Rolle in den Plänen der Morynski und Baratowski. Die Nordeck’schen Güter bildeten die bequemste Verbindung mit dem Aufstande und den sichersten Rückhalt für etwaige Kämpfe dicht an der Grenze; die tiefen Waldungen machten es trotz Posten und Patrouillen unmöglich, die angeordnete strenge Bewachung in ihrem ganzen Umfange aufrecht zu erhalten. Es hatte sich freilich vieles geändert, seit der junge Gutsherr sich damals, kurz vor der Abreise Morynski’s und Leo’s, so entschieden auf die Seite seiner Landsleute gestellt hatte, aber mit jener Stunde begann auch der stumme erbitterte Kampf zwischen ihm und seiner Mutter, der noch heute nicht zu Ende war. Die Fürstin hielt Wort. Sie wich ihm nicht auf dem Boden, auf den sie gleichfalls ein Recht zu haben glaubte, und Waldemar sah jetzt erst wirklich ein, was es hieß, seine Güter jahrelang in ihren Händen gelassen zu haben. Wenn seine einstige Vernachlässigung und Gleichgültigkeit dagegen gebüßt werden sollten, so büßte er sie jetzt.

Er hatte es erzwungen, daß sein Schloß nicht länger der Sitz von Parteibestrebungen war; für sein Gebiet konnte er das Gleiche nicht erzwingen, denn das war ihm systematisch entfremdet worden. Die unumschränkte Herrschaft, welche die Fürstin so lange ausgeübt, die vollständige Verdrängung des deutschen Elementes aus der Verwaltung, die Besetzung jedes nur irgendwie bedeutsamen Beamtenpostens mit polnischen Vertretern – das Alles trug nun seine Früchte. Nordeck stand in der That wie verrathen und verkauft auf seinem eigenen Grund und Boden. Ihm gab man den Namen des Herrn, und seine Mutter sah man als die eigentliche Herrin an. Wenn sie sich auch hütete, offen als solche aufzutreten, ihre Befehle gelangten doch in die Hände der Untergebenen und wurden unverzüglich befolgt, gegen die Waldemar’s aber stand ganz Wilicza in geheimer, aber fest geschlossener Opposition. Was nur möglich war an Intriguen und Ausflüchten, das wurde gegen ihn in’s Werk gesetzt; was nur geschehen konne, um seine Befehle zu durchkreuzen, seine Maßnahmen zu verwirren, das geschah, aber stets in einer Weise, welche die Verantwortung wie die Strafe ausschloß. Niemand verweigerte ihm direct den Gehorsam, und doch wußte er, daß Kampf und Ungehorsam die Parole war, die täglich gegen ihn ausgegeben wurde. Wo er sich an der einen Stelle Unterwerfung erzwang, da hob die Widersetzlichkeit an zehn anderen ihr Haupt empor, und wenn er heute seinem Willen Geltung verschaffte, so trat ihm morgen schon ein neues Hinderniß entgegen. Mit Entlassungen konnte er nicht vorgehen – sie hätten dem ganzen Beamtenpersonale gelten müssen, und theils banden ihn ihre Contracte in dieser Hinsicht; theils fehle ihm jeder Ersatz. In einer solchen Zeit konnte überhaupt jeder Gewaltact verhängnißvoll werden.

So wurde der junge Gutsherr in eine Stellung gedrängt, die für eine Natur wie die seinge die schwerste war, weil sie der Thatkraft keinen Raum gönnte, weil sie nur ruhiges besonnenes Ausharren erforderte, und gerade darauf hatte die Fürstin ihren Plan gebaut. Waldemar sollte allmählich in dem Kampfe ermatten, den er ihr angeboten; er sollte erkennen lernen, daß er schließlich doch nichts in einer Sache vermochte, in der ganz Wilicza zu ihr und gegen ihn stand; er sollte in seinem Unmuthe darüber die Zügel wieder fahren lassen die er ihr so gewaltsam aus der Hand genommen. Geduld war ja niemals seine Sache gewesen. Aber sie täuschte sich auch diesmal in ihrem Sohne, wie sie sich von jeher in ihm getäuscht hatte – er zeigte ihr jetzt die zähe Energie, den unbeugsamen Willen, den sie gewohnt war als ihre ausschließliche Charaktereigenschaft in Anspruch zu nehmen. Nicht einen Schritt wich er all den Hindernissen und Widerwärtigkeiten, die sich vor ihm aufthürmten; eine nach der anderen warf er sie zu Boden. Sein Auge und seine Hand waren überall, und wo man es wirklich einmal wagte, ihm den Gehorsam zu versagen, da ließ er den Gebieter in einer Weise fühlen, daß die ersten Versuche auch die letzten blieben. Das trug ihm freilich die Zuneigung seiner Untergebenen nicht ein; wenn man früher nur den Deutschen in ihm gehaßt hatte, so haßte man jetzt Waldemar Nordeck persönlich, aber man war bereits dahin gelangt, ihn zu fürchten, und bequemte sich auch allmählich, ihm zu gehorchen; unter diesen Umständen war die Furcht das Einzige, was noch den Gehorsam erzwang.

Das Verhältniß zwischen Mutter und Sohn wurde auf diese Weise immer unhaltbarer, wenn es sich auch äußerlich noch auf dem Fuße höflicher Kälte behauptete. Jene erste Erklärung zwischen ihnen war auch die einzige geblieben. Sie waren Beide keine Freunde von unnützen Worten und fühlten, daß von keiner Versöhnung und Verständigung die Rede sein konnte, wo sich die Charaktere und Principien so schroff gegenüber standen wie hier. Waldemar versuchte es nie, die Fürstin zur Rede zu stellen; er wußte, daß sie ihm auch nicht das Geringste von dem zugeben würde, was doch unleugbar von ihr ausging, und sie ihrerseits that nie eine Frage in dieser Hinsicht. So blieb das Zusammenleben wenigstens möglich und nach außen hin leidlich; was es für Stacheln in sich barg, das freilich wußten nur die Beiden allein. Waldemar zog sich in eine noch größere Abgeschlossenheit zurück als früher. Er sah die Mutter höchstens bei Tische, oft auch da nicht einmal, die Fürstin dagegen war sehr oft in Rakowicz bei ihrer Nichte und blieb meist längere Zeit dort. Wanda hatte Wort gehalten und Wilicza nicht wieder betreten, während Waldemar auf seinen Ausflügen sogar das Gebiet von Rakowicz vermied.

Mehr als drei Monate waren seit der Abreise des Grafen Morynski und seines Neffen vergangen. Man wußte allgemein, daß sie sich inmitten des Aufstandes befanden, bei welchem der Graf eine bedeutende Rolle spielte, während der junge Fürst Baratowski unter dem Oberbefehl seines Oheims ein Commando führte. Trotz der Entfernung und der Hindernisse standen Beide in ununterbrochenem Verkehr mit den Ihrigen. Die Fürstin sowohl wie Wanda hatten stets genaue und ausführliche Nachricht von Allem, was drüben geschah, und sandten ebenso häufig ihre Botschaften hinüber. Die Bereitwilligkeit, mit der sich in den Grenzdistricten Jedermann zu Botendiensten hergab, spottete aller Schwierigkeiten.

Es war um die Mittagsstunde eines ziemlich kalten Tages, als Assessor Hubert und Doctor Fabian vom Dorfe herkamen, wo sie einander begegnet waren. Der Herr Assessor steckte in dreifacher Umhüllung; er wußte noch von Janowo her, was eine Erkältung bedeutete. Auch der Doctor hatte der Mantelkragen schützend in die Höhe geschlagen. Das strenge Klima schien ihm nicht zuzusagen; er sah bleicher als sonst und angegriffen aus. Hubert dagegen schaute äußerst wohlgemuth darein. Die augenblicklichen Verhältnisse an der Grenze führten ihn sehr oft nach Wilicza oder in dessen Umgegend, auch jetzt hatte er wieder eine Untersuchung zu führen die ihn einige Tage in der Nähe festhielt. Er hatte sich wie gewöhnlich im Hause des Administrators einquartirt, und sein vergnügtes Aussehen zeigte, daß er sich sehr wohl dabei befand.

„Es ist großartig,“ sagte er in seinem feierlichen Amtstone. „Unbedingt großartig ist es, wie Herr Nordeck sich jetzt benimmt. Wir von der Regierung wissen das am besten zu schätzen. Der Präsident meint, dieses verwünschte Wilicza hätte auch hier bei uns schon längst das Beispiel zur Revolte gegeben wenn sich sein Herr nicht wie ein Wall und eine Mauer dagegen stemmte. Man bewundert ihn in ganz L., und dies um so mehr, als man nie ahnte, daß er sich jemals von dieser Seite zeigen werden.“

Doctor Fabian seufzte. „Ich wollte, er verdiente diese Bewunderung weniger. Gerade seine Energie zieht ihm hier täglich einen größeren Haß zu. Ich zittere jedesmal, wenn Waldemar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_712.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)