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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


auch den ganzen Fluch, die ganze Höhe dieses Bewußtseins tragen muß; sie hätte barmherzig sein müssen, und sie hat mich – – O mein Gott, es ist doch meine Mutter, und ich bin so lange ihr Alles gewesen.“

Waldemar stand erschüttert da vor diesem Ausbruche des Schmerzes. „Ich will Wanda rufen,“ sagte er endlich. „Sie wird –“

„Sie wird das Gleiche thun. Du kennst nicht die Frauen unseres Volkes. Aber eben deshalb“ – es brach mitten durch die Verzweiflung des jungen Fürsten etwas wie ein düsterer Triumph –, „eben deshalb hoffe Du nichts von ihnen! Wanda wird Dir nie angehören, niemals, auch über meine Leiche hinweg nicht. Und wenn sie Dich liebt, und wenn sie stirbt an dieser Liebe – Du bist der Feind ihres Volkes; Du hilfst mit an seiner Unterdrückung; das spricht Dir bei ihr das Urtheil. Eine Polin wird nicht Dein Weib. Und es ist gut, daß es so ist,“ fuhr er, tief aufathmend, fort. „Ich hätte nicht ruhig sterben können, mit dem Gedanken, sie in Deinen Armen zu wissen; jetzt kann ich’s – sie ist Dir verloren wie mir.“

Er wollte forteilen, blieb aber plötzlich wie gebannt stehen. Einige Secunden lang schien er zu schwanken, dann ging er langsam, zögernd zu der Thür, die in das Arbeitscabinet der Fürstin führte.

„Mutter!“

Drinnen blieb Alles still – nichts regte sich.

„Ich wollte Dir Lebewohl sagen.“

Keine Antwort.

„Mutter!“ die Stimme des jungen Fürsten bebte in angstvollem, herzzerreißendem Flehen. „Laß’ mich nicht so von Dir gehen! Wenn ich Dich nicht sehen soll, so sage mir wenigstens ein Wort des Abschiedes, nur ein einziges! Es ist ja das letzte. Mutter, hörst Du mich nicht?“

Er lag auf den Knieen vor der verriegelten Thür und preßte die Stirn dagegen, als müsse sie sich ihm aufthun. Es war vergebens – die Thür blieb geschlossen, und von drinnen kam kein Laut. Die Mutter hatte kein Abschiedswort für ihren Sohn, wie die Fürstin Baratowska keine Verzeihung für sein Vergehen hatte.

Leo erhob sich von den Knieen. Sein Antlitz war wieder starr wie vorhin, nur um die Lippen zuckte ein Ausdruck von so wildem bitterem Weh, wie er es wohl noch niemals in seinem Leben empfunden. Er sprach kein Wort; er nahm schweigend den Mantel auf, den er vorhin abgeworfen, legte ihn um die Schultern und ging dann der Thür zu. Der Bruder versuchte vergebens ihn zurückzuhalten. Leo drängte ihn bei Seite.

„Laß mich! Sage Wanda – nein, sage ihr nichts! Sie liebt mich ja nicht; sie hat mich ja aufgegeben um Deinetwillen. Leb wohl!“

Er stürmte fort. Waldemar stand einige Minuten lang völlig rathlos. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen und schritt rasch durch das Nebengemach bis in das Vorzimmer der Fürstin. Dort stand der Haushofmeister Pawlick mit verstörter Miene. Er war sogleich, als er von der Ankunft seiner verwundeten Landsleute hörte, zu ihnen geeilt und hatte noch vor dem Schloßherrn die Schreckensnachricht erfahren. Als er damit in das Schloß zurückkehrte, noch ungewiß, wie er sie seiner Gebieterin mittheilen solle, stand auf einmal am Eingange Fürst Baratowski selbst vor ihm. Aber er ließ dem erschrockenen alten Manne keine Zeit zu irgend einer Erklärung; er warf ihm nur im Vorbeieilen die hastige Frage nach seinem Bruder, nach der Gräfin Morynska zu und verschwand dann in den Gemächern seiner Mutter. Noch wußte Pawlick nicht, ob sein junger Gebieter bereits von dem Geschehenen unterrichtet sei, oder nicht; erst die Art, wie Leo jetzt bei der Rückkehr an ihm vorbeistürmte, zeigte ihm, daß er Alles wußte.

„Pawlick,“ sagte Waldemar herantretend. „Sie müssen dem Fürsten Baratowski folgen, auf der Stelle. Er steht im Begriff, eine Tollkühnheit zu begehen, die ihm das Leben kosten wird, wenn er sie ausführt. Er will jetzt, bei Tage, über die Grenze.“

„Gott im Himmel!“ rief der Haushofmeister entsetzt.

„Ich kann ihn nicht zurückhalten,“ fuhr Nordeck fort, „und ich darf mich nicht offen an seiner Seite zeigen, das würde ihn noch mehr gefährden, und doch muß er in seiner jetzigen Stimmung irgend Jemand zur Seite haben. Ich weiß, Sie reiten noch gut, trotz Ihrer Jahre, nehmen Sie ein Pferd! Der Fürst ist zu Fuß. Sie müssen ihn noch auf diesseitigem Gebiet erreichen, denn Sie kennen jedenfalls die Richtung, die er einschlägt, die Stelle, wo die geheime Verbindung mit den Insurgenten drüben noch besteht. Ich fürchte, sie ist in der Nähe der Grenzförsterei.“

Pawlick blieb die Antwort schuldig; er durfte nicht bejahen, aber es fehlte ihm in diesem Augenblick der Muth, die Wahrheit abzuleugnen. Waldemar verstand sein Schweigen.

„Und gerade dort ist die Bewachung jetzt am schärfsten,“ rief er heftig. „Ich erfuhr es durch unsere Officiere. Wie mein Bruder es heute Morgen möglich gemacht hat, hindurch zu kommen, weiß ich nicht; zum zweiten Mal gelingt es ihm nicht. Eilen Sie ihm nach, Pawlick! Er soll den Uebergang nicht dort versuchen, an jeder anderen Stelle, nur dort nicht. Er soll warten, sich verbergen bis zur Dunkelheit, wenn es nicht anders geht, in der Försterei selbst. Inspector Fellner ist jetzt dort; er hält zu mir, aber er verräth Leo auf keinen Fall. Eilen Sie!“

Er hatte nicht nöthig, anzutreiben. Die Todesangst um seinen jungen Gebieter stand deutlich genug auf dem Gesichte des alten Mannes.

„In zehn Minuten bin ich fertig,“ sagte er. „Ich reite, als gälte es mein eigenes Leben.“

Er hielt Wort. Kaum zehn Minuten später ritt er aus dem Schloßhofe. Waldemar, der oben am Fenster stand, athmete auf.

„Das war das Einzige, was noch übrig blieb. Vielleicht erreicht er ihn noch, und dann ist wenigstens das Schlimmste abgewendet.“ –

Vier, fünf Stunden waren vergangen und noch immer keine Nachricht eingetroffen. Sonst, wenn irgend etwas an der Grenze geschah, drängten sich die Botschafen. Alles, was von dort nach L. wollte, mußte Wilicza passiren und machte mit seiner Neuigkeit wenigstens auf einige Minuten unten im Dorfe Halt – heute war die Verbindung wie abgeschnitten. Unruhig ging Waldemar in seinem Zimmer auf und nieder; er bemühte sich, Pawlick’s Fernbleiben für ein gutes Zeichen zu nehmen. Jedenfalls hatte Dieser Leo erreicht und blieb nun an seiner Seite, so lange sich der junge Fürst noch auf diesseitigem Gebiete befand; vielleicht waren sie Beide in der Försterei geborgen. Da endlich – es war schon spät am Nachmittage – erschien der Administrator; er trat eilig, ohne jede vorherige Anmeldung, bei dem jungen Gutsherrn ein.

„Herr Nordeck, ich möchte Sie bitten, nach dem Gutshofe hinüber zu kommen,“ sagte er. „Ihre Anwesenheit dort ist dringend nothwendig.“

Waldemar sah auf. „Was giebt es? Ist irgend etwas mit den Verwundeten vorgefallen?“

„Das nicht!“ versetzte Frank ausweichend. „Aber ich möchte Sie doch ersuchen, selbst zu kommen. Wir haben Nachrichten von der Grenze erhalten. Drüben bei W. soll es nun wirklich zur Entscheidung gekommen sein; es ist heute Morgen dort eine förmliche Schlacht geliefert worden – gegen das Morynskische Corps.“

„Nun, und der Ausgang?“ fragte Nordeck in äußerster Spannung.

„Die Insurgenten haben eine furchtbare Niederlage erlitten. Es heißt, es sei dabei Verrath oder Ueberfall im Spiele gewesen. Sie haben sich gewehrt wie Verzweifelte, mußten aber doch schließlich der Uebermacht erliegen. Was von ihnen noch lebt, das ist zersprengt und nach allen Himmelsrichtungen geflohen.“

„Und der Führer? Graf Morynski?“

Der Administrator sah schweigend zu Boden.

„Ist er todt?“

„Nein, aber schwer verwundet in den Händen des Feindes.“

„Auch das noch!“ murmelte Waldemar. Er selbst hatte dem Oheim stets fern gestanden, aber Wanda! Er wußte, mit welcher glühenden leidenschaftlichen Zärtlichkeit sie an dem Vater hing. Wäre dieser im Kampfe gefallen, sie hätte es leichter ertragen, als ihn einem solchen Loose preisgegeben zu sehen und durch wen preisgegeben! Wer hatte die Niederlage jenes Corps verschuldet, das ungewarnt, ohne jede Deckung, einem Angriffe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_799.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)