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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


fing aus freien Stücken an, ein Bild der Lage in der Stadt zu entwerfen, bis der Regen plötzlich mit solcher Gewalt auf das Verdeck und an die Fenster des geschlossenen Fuhrwerks zu prasseln begann, daß sich jener zum Schweigen verurtheilt sah.

Zehn Minuten später standen die beiden Mädchen vor dem Billet des blonden Friesen und studirten die großen, krausen Schriftzüge mit fliegendem Athem und heißen Wangen. Toni’s Augen zeigten die Spuren der durchwachten Nacht mit ihren furchtbaren Erschütterungen; sie waren dunkel umflort. Und doch glänzten die schwarzen Sterne in unaussprechlicher Seligkeit, als die Freundin das Papier auf die Erde fallen ließ und, ohne ein Wort zu sagen, die Hände faltete und den Blick durch das Fenster hinaus schweifen ließ, ziellos und verloren.

„Milli, liebe Milli, Gott ist barmherzig gewesen,“ sagte sie; ihre Stimme zitterte vor Glück, und sie fing leise zu schluchzen an, als sie ihr Haupt am Busen der Freundin barg und diese umfaßte. So standen sie ein Weilchen, bis Toni sich aufrichtete und mit dem Tuch über die Augen fuhr.

„Ich will Johannes schicken, daß er ihn zum Wirthe schaffen hilft. Er muß anspannen und bis an die Brücke fahren. Ich bin gleich wieder bei Dir.“

Als sie das Zimmer verlassen hatte, glitt Emilie Hornemann auf den Boden nieder und barg ihr Gesicht in den Armen, welche sie auf einem Stuhle kreuzte. „Herr des Himmels, schütze mich vor den Stunden der Versuchung!“ flüsterte sie vor sich hin; „schütze mich vor meinem eigenen Herzen! Ich will thun, was eines Menschen Kraft vermag – das gelobe ich.“

Sie erhob sich endlich, denn sie hörte den leichten Schritt Toni’s vor der Thür.

„Ich habe ihm den Wagen zur Verfügung stellen lassen für den Fall, daß er nach der Stadt fahren möchte,“ sprach diese im Hereintreten. Ihre Stimme hatte etwas Gedämpftes, und ihr Wesen athmete eine stille Verschämtheit. Sie blieb eine Weile mit niedergeschlagenen Augen vor Emilie stehen, welche ihr, wie mechanisch, kosend die Wangen streichelte, bis sie die Veränderung an der Freundin bemerkte und innehielt.

„Was ist Dir, Toni?“

Diese erröthete bis an die Schläfe hinauf und in ihren Blicken, die sie auf die Fragerin richtete, verschmolz die kindlich hülflose Verlegenheit mit rührendem Bitten.

„Ich habe es doch nun Jemandem gesagt, was Niemand erfahren sollte, nämlich daß ich ihn lieb habe. Was wirst Du nun von nur denken, Milli? Eigentlich ist es ja doch schrecklich, einen Mann zu lieben, mit dem eine Andere verlobt ist.“

„Ich bin aber nicht mehr mit ihm verlobt –“

„Nein, entschuldige mich nicht aus lauter Gutmüthigkeit! Ich hatte ihn damals ebenso lieb, wie Ihr es noch waret. Ich habe es freilich vor aller Welt versteckt und vor ihm am allermeisten; ich hätte mich todt geschämt, wenn Jemand etwas davon gemerkt hätte. Verzeihe mir, liebe Milli! Ich kann ja nichts dafür, daß mein Herz so dumm war und immer hoch aufschlug, wenn ich ihn gesehen habe. Und nun bitte ich Dich um Eins: verrathe keiner Seele eine Silbe! Lieber will ich sterben, als daß er glauben könnte, ich wollte mich ihm aufdrängen, während er gar nichts von mir wissen will. Denn ich sehe nun deutlich, daß er Dich über alle Maßen liebt, weil er um Deinetwillen selbst den Tod gesucht hat. Nicht wahr, Du gelobst mir ewiges Stillschweigen?“

„Sei ruhig!“ erwiderte Milli, indem ein flüchtiges Lächeln auf einen Augenblick ihr schönes, schwermüthig-ernstes Gesicht verklärte. „Was wir in dieser Nacht mit einander durchlebt haben, ruht in meiner Brust wie zehn Fuß tief unter der Erde in einem Sarge.“ – –

In dem Zigeunerzelte war Urban inzwischen, sobald Harro ihn verlassen hatte, mit geschlossenen Augen wie todt zurückgesunken. Die gewaltsam aufgerüttelten Nerven versagten plötzlich den Dienst; das klare Bewußtsein machte einem Zustande Platz, in welchem die Geräusche der nächsten Umgebung wie aus weiter Ferne an sein Ohr schlugen. Er dachte nichts, und er wollte nichts. Er vernahm abgerissene Klagelaute, als ob sie der Wind zu ihm herüber trüge, und doch erschollen sie in seiner unmittelbaren Nähe, wo das braune Zigeunerkind sich schluchzend und jammernd über die Leiche der Mutter geworfen hatte und deutsche Brocken – es waren klagende Worte – mit den seltsamen Lauten der Sprache ihres Volkes mischte.

So lag er minutenlang, bis es allmählich in seinen Sinnen wieder heller ward. Er hörte deutlich die Stimmen der beiden Zigeuner, und ein leiser Schauer durchrieselte ihn, als der jüngere in ein unarticulirtes Geheul ausbrach, welches er stoßweise von sich gab. Dazwischen erzählte die schreiende Stimme des Mädchens und klang grollend die dumpfe Sprache des Alten.

Plötzlich wachte er von der Berührung seiner Hand auf, welche Jemand gewaltsam in die Höhe riß. Er sah mit müden Augen, daß es der junge Bursche war, der den Dolch in der Hand hielt und damit auf die andere Seite des Zeltraumes hinüber deutete. Aber er empfand keine Regung von Furcht oder Schrecken, sondern die vollkommenste Gleichgültigkeit. Seine Augen erfaßten nur noch, wie die braune Juschka auf einmal hinter dem Burschen stand und demselben den Dolch aus der Hand riß, und wie halbnackte Kinder neben dem Zeltvorhange herein schlichen – dann schlossen sie sich wieder. Zugleich ließ der Zigeuner seinen Arm fahren, daß derselbe schlaff hernieder glitt, und trat scheltend von ihm weg.

Auf’s Neue kam Dämmerung über ihn, und wieder ermunterte er sich nach einiger Zeit. Ein summender Ton war es, der ihn auf eine Minute seiner Lethargie entriß, und als er in der Richtung hinsah, aus der dieser Ton kam, erblickte er das Zigeunermädchen neben der wieder auf ihr Lager gebetteten Todten auf der Erde kauernd; um sie herum saßen die Kinder, denen sie in ihrer eigenthümlichen Manier eine Art Todtenklage vorzurecitiren schien. Die Männer waren aus dem Zelte verschwunden.

„Daß die Sonne sich verfinst’re nicht,
Schwarze Erde deckt auf ihr Gesicht!
Böse Krankheit schickt der blut’ge Mond,
Wenn er sie beschaut mit seinem Licht.
Eine Pappel mit den Wurzeln nehmt –“

Weiter hörte er nichts deutlich.

Später fühlte er etwas warm auf sein Antlitz tropfen und sah die weinenden Augen der Zigeunerin dicht über sich.

„Wacht auf, Herr! Sie kommen, Euch zu holen. Die arme Juschka muß Euch Lebewohl sagen.“

Er ließ es geschehen, daß ihm das Mädchen die Hand mit Küssen bedeckte, bis sie endlich aufsprang und auf die andere Seite des Zeltes flüchtete.

Drei Männer traten ein, der Wirth und sein Knecht, außerdem ein fremder Knecht. Der Wirth begrüßte den Doctor und breitete ein Plantuch auf den Boden.

„Bis über die Brücke müssen wir Sie tragen; dort hält das Fuhrwerk.“

Sie hoben den schweren Mann auf und legten ihn auf das Tuch; dann trugen sie ihn, zu Dreien wechselnd, den Waldweg hin und erreichten den Wagen, noch ehe der Regen losbrach.

„Ah!“ sagte Urban, als er plötzlich Johannes und das Gefährt des Commerzienrathes neben sich sah, „wer hat Sie mir zur Hülfe geschickt? Ihr Fräulein?“

„Ja wohl, Herr Doctor. Sie läßt fragen, ob Sie vielleicht gleich in die Stadt fahren wollten.“

Urban gab keine Antwort. Er saß schlaff und schwerfällig, das Leintuch um sich gewickelt, neben dem Wirth; der Wagen wiegte ihn sanft in den schwanken Federn bis an das Wirthshaus. Hier sprang Johannes vom Bocke, drängte die Männer zurück, die schon in den Regen hinausgestiegen und im Begriffe waren, den Doctor hinauszuheben, und wiederholte seine Frage, ob er gleich zur Stadt fahren sollte.

„Sagen Sie Ihrem Fräulein,“ meinte Urban, „wenn sie sich entschließen könnte, mich als barmherzige Schwester zu begleiten; nur dann würde ich den Wagen benutzen.“

Johannes sah ihn verwundert an, übergab die Zügel dem einen Knecht und ging zwischen die Gärten. Endlich kam er wieder und steckte sein vom Regen triefendes Gesicht zum Wagenschlag hinein.

„Das gnädige Fräulein meinte, es thäte ihr sehr leid, aber es ginge nicht, wegen des Geredes der Leute. Sie möchten ihr das nicht übel nehmen und ohne sie fahren.“

Um den Mund des Doctors zuckte ein bitteres Lächeln. „Es scheint mit der Größe ihres Erbarmens nicht viel auf sich gehabt zu haben. Und nun bringen Sie mich in eines Ihrer Betten, Herr Eckermann! Ich werde Ihnen oben sagen, was mir noth thut; ich muß eine Kopfwunde haben. Ich lasse Ihrem Fräulein danken, Johannes.“



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