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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Man kennt das. Sie ist Turnlehrerin; wie kann man sich da noch über etwas verwundern! Was es jetzt für weibliche Existenzen giebt! Wer hätte in unserer Jugend an eine Turnlehrerin gedacht! Und sind wir nicht auch in die Höhe gewachsen, haben wir nicht gute und angesehene Männer bekommen? Wie gefällt Ihnen übrigens Fräulein Regina?“

„Der jüngsten Eine ist sie nun gerade nicht mehr – nicht gerade häßlich. Wäre sie schöner, dann würde sich Doris wohl gehütet haben, sie an ihre Seite zu fesseln. So aber giebt sie ein bequemes Relief ab. Sie kokettirt mit Einfachheit – sehen Sie nur die Toilette! – wie eine graue Schwester sieht sie aus, was sogar meinem Manne auffiel.“

„Aber alles schwerer Rips,“ bemerkte die Commerzienräthin. „Was wohl Doris zum Brautkleid genommen haben mag? Das muß man sagen, die Herrschaften lassen Einen lange warten – natürlich wie alle vornehmen Leute. Auf den Adel ging der Sinn der Braut ja stets hinaus. Wir werden die längste Zeit mit Doris umgegangen sein!“

„Wie so?“ fragte mit gedehntem Gesicht die Frau Syndikus.

„Weil dort der neue Gesellschaftskreis der Frau von Rechting schon vertreten ist – der Geheime Legationsrath von Wandelt und Gemahlin.“

„Stolz und allein!“ höhnte die Dünne.

„Sie wissen, Herr von Rechting verkehrte viel in dem Hause – man glaubte, er würde die einzige Tochter Elsa heirathen; aber – wer kann’s ihm verdenken, wenn er einen Goldfisch haschte! Ob Doris den Assessor wohl aus Liebe heirathen mag?“

Die Frau Syndikus zuckte die Achseln und sprach ihre Zweifel aus, wie es auch schon ihr Mann gethan hätte.

„Haben Sie keine Sorge! Doris heirathet ihn aus Liebe; sie hätte auch keinen Andern geheirathet, so viele Freier sich ihr auch sonst in den Weg gestellt haben.“

Mit diesen Worten war Regina unter die Damen, welche diese Conversation führten, und mehrere eifrige Zuhörerinnen getreten, die sie um sich versammelt hatten. Die Zungen waren alsbald verstummt. Wüthende Blicke schossen auf das Mädchen, aber sie glitten an den grauen Augen desselben ab. Die Commerzienräthin verschlang ihren Aerger mit einigen Gänseleberbrödchen, und die Frau Syndikus arbeitete mit ihrem Flacon. Dann öffneten sich die Flügelthüren, und Erich von Rechting führte seine Braut in die Gesellschaft ein.

Das Bild im Sammetrahmen war durch den bräutlichen Schmuck in das züchtigste, seelenvollste Leben übertragen. Doris wagte aus den weißen Schleiern und Spitzen und dem Myrthengrün kaum aufzusehen. Sie hing an Erich wie eine Blume an ihrem Stengel, und die Glückwünsche, die von allen Seiten auf sie eindrangen, am eifrigsten von den Sprecherinnen, welche wir belauscht hatten, wurden von ihr mit einem zärtlichen Blick auf ihren Bräutigam beantwortet.

„Bist Du bereit, mein Lieb?“ flüsterte er ihr zu.

Statt aller Antwort gingen ihre Augen weit und voll nach ihm auf, und dann sanken die Blicke wieder in ihre Lider zurück. Das Uebrige war eine leise Neigung des Hauptes, als Zeichen der Uebereinstimmung.

Dann eilte der alte Diener die Treppen hinab, um den Befehl zum Vorfahren des Brautwagens zu geben. Im Flur hatte er eine alte Frau, eine Almosenempfängerin des Hauses, postirt. Von der sollte die Braut beim Ausgang aus dem Hause Brod und Salz empfangen und mit der linken Hand zu sich stecken; damit sichere sie sich Wohlergehen und Glück. Doris hatte dazu gelächelt, aber versprochen, es zu thun.

Während sich der Schwarm der Hochzeitsgäste, zumeist Verwandte und Bekannte der Familie, die Treppe hinunter ergoß, um dem Brautpaar vorauszufahren, war letzteres zurückgeblieben. Regina schloß voll Bewegung die jüngere Freundin in die Arme, küßte sie auf die bräutliche Stirn und sah ihr dann nochmals recht tief in die Augen, als wollte sie sagen: So warst Du mir theuer; so habe ich Dich gekannt. Wie wird es wohl nun mit uns werden?

„Werde glücklich!“ flüsterte sie. „Ich werde hier für Dich beten.“

„Kommst Du denn nicht mit in die Kirche?“

Ein leises Schütteln des Hauptes war die Antwort.

„Aber es war doch so bestimmt, Regina.“

„Ich fürchte mich – vor der Bewegung, Doris, ich muß mich schonen – meine Gesundheit – und die kalte Kirchenluft, die ich fürchte – ich kann nicht. Es ist am besten, ich bleibe hier.“

„Aber Regina, das macht mich fast traurig.“

„Laß’ nichts Dich traurig machen, wo Du glücklich werden sollst! Wozu nütze ich Dir denn? Hier, hier – der Gatte soll Dein Glück sein. Gott neige segnend sein Haupt über Dich! Ich werde hier für Dich beten.“

An den Fenstern der Wohnung erschien in dem Augenblick, als Erich und Doris zur Trauung abfuhren, die Gestalt Regina’s, wie ein Schatten, der im nächsten Moment wieder verschwunden war.

(Fortsetzung folgt.)


Das Evangelium der Toleranz.
Eine Säcular-Erinnerung.[1]
Von Rudolf Genée.

Im November 1778, als Lessing noch an seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ arbeitete, kam er in einem Briefe an seinen Bruder Karl auf die Möglichkeit zu sprechen, daß das Stück endlich doch einmal auf’s Theater kommen könnte, und fügte hinzu: „Wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre.“

Erst in den gegenwärtigen Wochen sind die hundert Jahre dieses Ausspruchs verflossen; aber schon vier Jahre nach dem Erscheinen des gedruckten Stückes, zwei Jahre nach dem Tode des großen Literatur-Reformators, hatte die erste Aufführung des „Nathan“ stattgefunden. In einem ungedruckt gebliebenen Vorwort zu dem Stücke sagte Lessing: „Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland , wo dieses Stück jetzt aufgeführt werden könnte, aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird!“ Diejenige Stadt, welcher Lessing, mit Bezug auf die Tendenz dieser Dichtung, im Voraus „Heil und Glück“ wünschte, war Berlin. In der That konnte und durfte es keine andere sein, als die Hauptstadt desjenigen Staates, dessen großer König erklärt hatte, es könne hier „Ein Jeder nach seiner Façon selig werden“ – So gut wie das „Auch hier sind Götter!“ hätte auch jenes Wort Friedrich’s des Großen als Motto zu der Dichtung gepaßt.

Die sittliche und sociale Bedeutung des Lessing’schen Gedichtes überwiegt bei weitem dessen Wichtigkeit für die Geschichte und Entwickelung der dramatischen Poesie und des deutschen Theaters. In dieser Beziehung waren „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“ folgenreichere Thaten. Für Lessing’s „Nathan“ ist deshalb auch das literarische Jubiläum von größerer Bedeutung als das theatralische. So groß auch die Kunst war, mit welcher er den so vorwiegend lehrhaften Charakter seines Gedichtes in dramatische Form zu bringen wußte, so hat doch auf dem deutschen Theater „Nathan“ seine feste Position nur durch seine Tendenz, durch seinen sittlichen Gehalt erlangt. Lessing selbst täuschte sich über den dramatischen Werth seiner Dichtung keineswegs. Er bezeichnet sie wiederholt in seinen Briefen als eine Frucht weniger des Genies als der Polemik, und schon im April 1779 schrieb er. „Es kann wohl sein, daß mein „Nathan“ im Ganzen wenig Wirkung thun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“ Man beachte wohl: an der Evidenz und Allgemeinheit! Das

  1. In das mit dieser Nummer eröffnete Quartal fallen die Geburtsjubiläen Lessing’s (geboren 22. Januar 1729) und seiner hervorragendsten Dichtung „Nathan der Weise“ (vollendet Mitte März 1779). Dies die Veranlassung zu obigem Artikel.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_004.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)