Seite:Die Gartenlaube (1881) 389.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 24.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Nicht zu hoch.
Erzählung von Hermann Lingg.
(Schluß.)


In der That, Sebaldus lag in einem schweren Processe mit sich selbst. Der Glaube an so Vieles, was ihm bisher für unerschütterlich wahr gegolten, was er hinnahm, als ob es so sein müßte, erschien ihm jetzt in einem anderen, in einem zweifelhaften Lichte. Die tausend Kniffe und Schliche, mit denen der Klügere, Rücksichtslosere den blos Redlichen übervortheilt, die Härte, mit der das Gesetz, das nicht den Einzelnen beachtet, gegen den verfährt, der sich nicht zu beherrschen weiß, das allgemeine Uebereinkommen, mit dem man dem Einflußreichen, dem Mächtigen gegenüber Alles, selbst das gemeinste Laster beschönigt, die Bosheit liebenswürdig, die Herzlosigkeit natürlich findet, das Alles trat jetzt vor ihn und erschien ihm in seiner wahren Gestalt; er verachtete die Welt, in der er lebte, die er tagtäglich vor sich hatte, der er, wie jeder Andere, schmeichelte und huldigte. Jetzt fiel ihm wieder das Gespräch in der Wirthsstube ein; er war beinahe stolz darauf, daß er unter Menschen gesessen, die so kühne Aeußerungen gewagt hatten, wie der Jäger.

„Ja,“ sprach er zu sich, „mir wär’ es gleichgültig, wenn man mich auch für einen solchen hielte, einen von denjenigen, die das Unrecht im Verborgenen strafen.“

Jetzt ward an seine Thür gepocht und das von seiner Schwester angenommene Kind, dem er Unterricht ertheilte, trat ein. Seit einem Jahre lebte es im Hause, und Jedermann hatte es lieb gewonnen; dem Schreiber war es geradezu seine einzige Freude.

Veronika war vor etwa zwei Jahren von ihrer Mutter aus dem benachbarten Gebirgsland in den Dienst gegeben worden. In jedem Frühjahr kommen nämlich aus dem Montafun arme Leute herüber und verdingen da ihre Kinder zum Viehhüten an wohlhabende Bauern der Umgegend. Im Herbst werden die Kinder wieder an derselben Stelle von ihren Eltern abgeholt, und der Lohn, den sie sich während des Sommers erwarben, reicht den Winter über aus, ihr karges Leben zu fristen. Nun war an einem Herbsttag auch Veronika am Sammelplatz eingetroffen, nachdem sie den Sommer über im Dienste der Schwester Sebald’s gestanden hatte, aber für sie kam diesmal Niemand, um sie heimzuholen. Durch die Eltern der andern Kinder erfuhr sie, daß ihre Mutter gestorben sei. Von ihrem Vater wußte man ohnehin seit Jahren nichts mehr, er war in die weite Welt gegangen, man glaubte nach Australien. Die Aermste, die nun eine Waise geworden, lief weinend zu ihrer Dienstherrschaft zurück und wurde wieder angenommen, nach einigen Monaten sogar an Kindesstatt. Es hatte freilich einigen Zuredens von Seiten des Bruders bedurft, bis die Schwester sich zu dem Schritte entschloß. Da nun das Kind bisher von Lesen und Schreiben soviel wie nichts wußte, so übernahm es Sebald, sie in beiden zu unterrichten. Anfangs ging es recht langsam, die Vernachlässigung aller geistigen Anlagen hatte ihre Fähigkeiten wie in Schlaf versenkt, und nur die Wißbegierde zu wecken, kostete schon Mühe. Sebald ließ sich diese nicht gereuen und sah sich bald belohnt. Einmal erwacht, entwickelten sich die Talente des Mädchens mit südlicher Raschheit, und mit der geistigen Entfaltung ging auch die körperliche vorwärts. Das Rauhe und Trotzige in Veronika’s Wesen verwandelte sich in jungfräuliche Sanftmuth; ihre Stimme wurde weicher, ihre Gestalt zarter und biegsamer.

Wie Veronika nun Bücher und Hefte vor ihrem Lehrer ausbreitete, wie er ihre Aufgaben durchsah und prüfte, da fühlte er recht tief, welche Beruhigung ihre Anwesenheit ihm bot. Jede Frage, die sie an ihn richtete, jede Antwort, die er von ihr hörte, rückte seinen Geist wieder in geordnete ruhige Bahnen. Er fühlte sich unter der Macht dieser unschuldigen Seele genesen, wie ein Fieberkranker, dem ein frischer Trunk Wasser gereicht wird.

Am Schlusse der Unterrichtsstunde blieb Veronika vor ihrem Lehrer stehen und sah ihn mitleidsvoll an.

„Ach, Herr Sebald,“ sagte sie, „ich habe eine Bitte. Sie dürfen mir es nicht übelnehmen.“

„Gewiß nicht, Kind. Was willst Du?“

„Ich möchte Sie bitten, daß Sie sich der Sache des Hösch nicht weiter annehmen. Sie werden krank darüber.“

Der Schreiber bog seinen Arm um die Stuhllehne und stützte nachdenklich den Kopf darauf – er antwortete nicht.

„Ich versündige mich vielleicht an Ihrem gerechten Eifer,“ fuhr sie fort, „aber auch das muß ich gestehen: ich habe Mitleid mit dem Missethäter; Alles lästert ihn; Alles verfolgt ihn; Jedermann wünscht ihm ein martervolles Ende, und ist er nicht schon elend genug, da er ein Kain geworden ist?“

„Wie!“ fuhr der Schreiber auf „soll ein Mörder frei herumgehen in der Welt, die gleiche Luft mit uns einathmen, soll ihm dasselbe Himmelslicht scheinen, wie den Guten und Braven, die in Angst und Schrecken sind, so lang er straflos bleibt?“

„Es mag so sein,“ antwortete Veronika, „aber vielleicht ist er nicht einmal so schuldig und verabscheuenswerth, wie es den Anschein hat, wer er auch sein mag.“

„Kind, Kind,“ rief Sebald, „das sind Versuchungen. Halte Dein Gewissen frei von solchen Gedanken! Aber zu Deiner Beruhigung will ich Dir versprechen, daß ich mich um diese Angelegenheit nicht mehr und nicht weniger bekümmern will, als ich muß, als es mir zur Pflicht wird.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_389.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2020)