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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 25.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artoria.
1.

„Signori – una barca! Hôtel Europa! Hôtel Bellevue! Hôtel Aurora!“ so rief es hundertstimmig in tollem Durcheinander vor dem breiten Quai des Bahnhofes von Venedig, dort, wo der Strom der Reisenden sich über die große Treppe von der Einsteighalle nach dem Canal hinunter ergießt.

Mancher, der seit seiner Schulzeit die Lagunenstadt als auf Pfählen stehend zu denken gewohnt war, bekam doch bei dieser Gelegenheit die erste Vorstellung von ihrer gänzlichen Droschkenlosigkeit und stand verblüfft dem dicht vor ihm beginnenden schwarzen Gondelgewirr gegenüber, eine Beute der zugreifenden Facchini, die ihn und seine Habe auf’s Schnellste dem großen Canal zur Weiterbeförderung überantworteten.

Bereits Localkundige wußten sich solchen ungebetenen Liebesdiensten energisch mit ein paar kurzen Worten zu entziehen. Virtuose hierin schien ein älterer Herr mit grauem Filzhut zu sein, der gänzlich unbelästigt an einem Gascandelaber stand und mit scharfen Augen über das Menschengewimmel hinsah, ohne bis jetzt den Gondolier, den er wünschte, gefunden zu haben.

Das seitwärts von ihm stehende junge Paar überließ ihm diese Sorge offenbar gern; die Blicke der schönen Dame im eleganten Reisekleid streiften neugierig über das belebte Bild hin.

„Nun, das ist ein hübscher Anfang des malerischen Venedig, Herr Björnson!“ sagte sie scherzend zu ihrem Begleiter, einem hochgewachsenen blonden Mann. „Auf brettervernagelte Palastfenster war ich gefaßt – aber nicht auf diesen ebenso langweiligen, wie unsauberen Bach und die ganz modernen, nüchternen gelben Hausmauern da drüben. Erröthen Sie nicht, mir sagen zu wollen, dies sei der große Canal?“

Der junge Mann lachte gleichfalls, was seinen ernsthaften Zügen einen sehr liebenswürdigen Ausdruck gab.

„Er ist es wirklich, Fräulein Leontine, wenn auch nur in seinen bescheidensten Anfängen. Warten Sie nur! Wenn wir dort um die Ecke biegen und bald der erste Palast auftaucht, wenn wir dann unter dem Rialtobogen in die stolzeste Straße der Welt einfahren, dann sollen Sie mir Abbitte thun.“

Jetzt fing der alte Herr an mit einem weiter draußen haltenden Gondolier telegraphische Zeichen zu wechseln.

„Da haben wir ihn ja, meinen ehrlichen Alten von der Giudecca, der mir vor zwei Jahren mit soviel Grazie die Honneurs der Stadt machte. He, Antonio! Siehst Du, Leontine, er hat mich auf der Stelle erkannt.“

Rufend und winkend zwängte der sonnverbrannte Graubart seine Barke durch die übrigen durch, aber die Augen der jungen Dame wandten sich ihm nicht zu, sondern blickten, wie unangenehm überrascht, nach einer anderen Gondel, welche mit schnellen Ruderschlägen von seitwärts heran glitt und soeben anlegte.

Eine lange mit tadelloser Sorgfalt gekleidete Figur erhob sich darin und grüßte, nicht ohne leichte Verlegenheit, nach dem Quai herauf.

„Ei, Herr Nordstetter!“ rief der alte Herr erstaunt.

„Wie Sie sehen, Herr Baron! Darf ich vielleicht bitten, sich meiner Gondel zum Hineinfahren zu bedienen? Das gnädige Fräulein wird besser darin sitzen, als in dieser alten da.“

„Aber sagen Sie mir –“ der Baron faßte den Rockknopf des Herausgestiegenen – „wie in Himmelsnamen – ja so!“ unterbrach er sich vorstellend, „Herr Maler Björnson – Herr Banquier Nordstetter!“ Die Genannten tauschten einen sehr gemessenen Gruß. „Also, wie kommen Sie hierher?“ fuhr der alte Herr fort. „Ich dachte, Sie wollten geradeswegs nach Rom, als wir uns neulich in Riva trennten?“

„Das war auch meine Absicht,“ erwiderte Herr Nordstetter mit etwas unsicherer Stimme, „aber schon unterwegs in Verona hörte ich von allen Seiten soviel von der bevorstehenden Kaiser-König-Zusammenkunft hier, daß ich beschloß, sie mitzunehmen und acht Tage später nach Rom zu gehen. Es war vielleicht gut, daß ich Ihnen vorausreiste; denn die Stadt ist bereits so überfüllt, daß man kein comfortables Quartier mehr findet. Ich habe große Mühe gehabt zwei Zimmer im Grand Hôtel an der Riva für Sie freizuhalten. Darf ich Sie hingeleiten?“

Er verbeugte sich vor der jungen Dame und sah sie erwartungsvoll an.

„Darüber muß Papa entscheiden,“ erwiderte Fräulein Leontine sehr kühl und mit jener nachlässigen Kopfbewegung, welche das ausschließliche Geheimniß junger, verwöhnter Damen ist, „er hat uns soeben noch einen Vortrag über die wünschenswerthen Lagen von Venedig gehalten –“

„Aber er konnte nicht hoffen, in der wünschenswerthesten noch unterzukommen,“ rief Baron Willek vergnügt, „haben Sie besten Dank, lieber Freund, für Ihre Fürsorge!“

Während er die Facchini mit den Koffern der Gondel zu dirigirte und Herr Nordstetter in beflissener Hülfeleistung den eleganten Reisekorb und die Juchtentasche vom Candelaber, wo sie bisher geruht hatten, ebendahin beförderte, wandte sich die junge Dame mit einem vielsagenden Blick nach ihrem Begleiter um. Er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_405.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2021)