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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 38.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


„Officier willst Du werden, um Deiner Mutter eine angesehene Stellung zu schaffen?“ fragte Fügen. „Du träumst wohl? Der Umgang mit Friesack ’s hat Dir den Kopf verdreht. Ja, könntest Du damit anfangen, Oberst zu werden oder Major! Welche Reihe von Jahren muß aber vergehen, ehe Du nur über den Lieutenant hinaus bist!“

„Ich trage den Gedanken seit langer Zeit in mir und hielt die Augen offen. Der Oberst will mir wohl; er wird mir alles Formelle erleichtern, wenn ich als Avantageur in sein Regiment trete. Anfänge sind in jedem Berufe zu überwinden – dieser führt sicher meinem Ziele entgegen. Keine Willenskraft kann mir Genie geben, mit Studium und Ausdauer läßt sich aber in der militärischen Carriere Auszeichnung gewinnen. Das will ich um meiner Mutter willen.“

Fügen antwortete nicht; ihm war, als sei der Knabe plötzlich nicht mehr derselbe, mit welchem er seit Jahren Haus und Herz, Freuden und Leiden seiner Künstlerseele getheilt hatte. Alles, was Fügen leidenschaftlich gehegt, seine Liebe zur Musik, zu Genoveva, zur Freiheit sogar, war ihm durch Siegmund zu einem Bilde verschmolzen, gleichsam verkörpert. Und nun sollte von diesem geliebten Menschen die Kunst fortan höchstens als eine Art von Luxus gepflegt, seine Freiheit in Fesseln geschlagen werden. Er kam über den Eindruck nicht hinweg, daß Siegmund sein göttliches Erbtheil um ein Linsengericht verkaufen wolle.

Während solche Gedanken sein Inneres bewegten, hatte Siegmund seinen Sitz am Tische schweigend wieder eingenommen; er stützte den Kopf in die Hand und hielt die Augen unverwandt auf seinen alten Freund gerichtet. Dieser blieb auf einmal vor ihm stehen; es wetterleuchtete in seinem Gesicht.

„Nun,“ sagte er, „Jeder mag thun, was er nicht lassen kann.“

„Dank!“ erwiderte Siegmund mit tiefem Atemzuge. „Und was, denken Sie, wird meine Mutter sagen?“

Der Meister bewegte unruhig seinen buschigen Kopf. Diese Frage war, seit Siegmund seine Eröffnungen begonnen, der Hintergrund aller seiner Gedanken gewesen.

„Deine Mutter,“ sagte er finster, „wird zustimmen.“

„Sie glauben?“ Ein Freudenblitz sprühte aus Siegmund’s Augen.

„Ich weiß – ich weiß,“ murmelte Fügen und warf sich in die Sophaecke. In der. That stand ihm außer Zweifel, daß Genoveva dem neuen Lebensplane zustimmen würde, welcher mehr als jeder andere ihren geheimen Erwartungen entsprach. Die Stellung des Officiers näherte Siegmund seinen angeborenen Standesrechten; gelang es ihm, diese zu gewinnen, so fand ihn ein solcher Moment bereits in entsprechenden Kreisen. Auch das vorhin flüchtig hingeworfene Wort: daß Oberst Friesack willig sein würde, dem Freunde seines Sohnes alles Formelle zu erleichtern, hatte für Fügen größere Bedeutung noch, als für den, welcher es ausgesprochen; denn er wußte sehr wohl, wie hoch der persönliche Einfluß eines Commandirenden in der österreichischen Armee anzuschlagen war, wie nöthig er gerade in diesem Falle sein würde. Das Fehlen aller Personalpapiere konnte durch den Oberst ausgeglichen werden. Fügen that sich Gewalt an und besprach mit seinem Mündel die zunächst nothwendigen Schritte, welche jedenfalls erst nach dem bevorstehende Zusammentreffen mit Frau von Riedegg unternommen werden konnten. Er that sich Gewalt an – denn daß etwas wie Reif zwischen sie gefallen war, empfanden Beide deutlich. Als sie sich trennten und Siegmund sein gewohntes: „Gute Nacht, Meister,“ sprach, polterte Fügen’s unterdrücktes Unbehagen in dem Worte heraus: „Bin ich nicht mehr!“

Siegmund athmete tief auf, als er in sein Schlafzimmer trat, aber so luftig das Gemach war, heute erschien es ihm dumpf. Er öffnete das Fenster, um die kühle Nachtluft hereinströmen zu lassen, und lehnte sich auf das Sims. Es war spät, die Straße menschenleer; die meisten Häuser standen in Dunkel und Schweigen. Nur hin und wieder flimmerte schwacher Lichtschein hinter einzelnen Scheiben. Der Mond war niedergegangen; Nebelmassen stiegen auf. Die hochgelegene Citadelle schien frei im Hintergrunde zu schweben. Siegmund hatte ein Gefühl, als müßten ihm hohe Geheimnisse aufgehen.

Die Schwere, welche er von den letzten Stunden mit hinweggenommen, lüftete sich plötzlich. Es war eine steile Stufe, die er heute erstiegen, sein Auge blickte aber von dort aus freier in die Weite. Während sich Fügen mit dem Gedanken quälte, daß er fruchtlos gestrebt, sein Eigenstes in die Seele des Zöglings zu pflanzen, wuchs diesem gerade auf der Basis innerer Harmonie, die er vom Meister empfangen, das Bewußtsein auf: jedem Conflict des Lebens gewachsen zu sein. Wie ein Gestirn stand das Bild der Mutter über ihm, und diesem Sterne zu folgen, konnte auf keinen Irrweg führen.

In gehobener Stimmung schloß er das Fenster. Als er die Kleider abstreifte, fiel etwas Leichtes, Kühles auf seine Hand. Sinnend betrachtete er im Sternenzwielichte die noch im Welken tiefblaue Blüthe und legte sie dann in ein Fach seines Notizbuches. Sie sollte ihm ein Zeichen des Tages bleiben, der über sein Geschick entschieden hatte.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_617.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)