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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 6.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Da fahren Hunger und Durst zusammen,“ bemerkte im folgenden Schlitten der dicke Referendar Golling zu dem Lieutenant von Rost und blies behaglich den Rauch einer feinen Cigarre in die kalte Winterluft. Sie hatten keine Damen im Schlitten, die Beiden, hatten vielleicht auch keine gewollt. Lieutenant von Rost vertrat hier die Stelle des ewig Weiblichen, er hatte ein Taschentuch um den Arm gebunden und handhabte einen riesigen dunkelrothen Fächer mit vielem Geschick.

„Na, bei einer Schlittenpartie ist es ja noch zu ertragen; die guten Büffets in der Burg sind ein tröstlicher Hintergrund,“ gähnte der Lieutenant.

„Herr Gott, der gute Mann wird doch nicht so wahnsinnig sein und etwa ernsthafte Absichten –?“ fragte der Referendar.

„Eh, was weiß ich?“ gähnte wiederum der Officier, „’s ist seine Sache. Daß der Alte nichts hat, weiß er so gut, wie wir Alle.“

„Er macht’s ein Bischen arg, lieber Rost, und – nebenbei – er ist Gemüthsmensch.“

„Ja, wer wäre das nicht! Aber hierbei hört eben die Gemüthlichkeit auf,“ erklärte der Lieutenant und ließ mit einer Gesichtsverzerrung den Kneifer fallen, mittelst dessen er angelegentlich das vor ihnen fahrende Paar betrachtet hatte.

Moritz fuhr zu allerletzt mit einer hübschen jungen Frau. Er war verdrießlich und suchte beständig mit den Augen nach Frieda und Else.

„Fräulein von Hegebach ist ziemlich weit vorn, Herr von Ratenow, Bernardi fährt sie. Nicht wahr, er ist viel in Ihrem Hause? Ich bin befreundet mit einer Schwester von ihm; der Vater war ja wohl früher hier Kreisphysicus? Er soll jetzt in B. eine große Praxis haben, aber weiter – glaube ich – nichts. Die vielen Kinder – Sie wissen, Herr von Ratenow.“

„Ich kenne seine Familienverhältnisse ganz genau,“ erwiderte Moritz verstimmt. Er fühlte sehr gut, was man ihm andeuten wollte.

„Ach so! Verzeihen Sie, bester Herr von Ratenow,“ bat die junge Frau und sah ihn groß an. „Nun, dann wußten sie ja auf der Burg, daß er keineswegs eine gute Partie sei.“

Indessen herrschte auf der Burg ein wahrer Höllentumult, wie die alte Frau von Ratenow ärgerlich zu Tante Lott sagte. Im Speisezimmer wurden die Tafeln gedeckt und der Gärtner schleppte das halbe Gewächshaus in die Halle, wo man tanzen wollte. Frieda hatte die Trauer pünktlich am 1. Januar abgelegt; nun war es das erste große Fest heute, und zwar ein improvisirtes. Sie war gestern Abend aus einer Gesellschaft gekommen mit dieser Idee und hatte heute in aller Tagesfrühe sämmtliche Hände und Füße des Hauses in Bewegung gesetzt.

„Laß mich nur in Frieden,“ erklärte Frau von Ratenow der Schwiegertochter, „schicke mir die Kinder, damit sie Euch nicht im Wege sind; das ist Alles, was ich dabei thue.“

In Frieda’s Schlafzimmer lag die elegante blaßblaue Seidenrobe bereit für heute Abend, mit jedem Stückchen, was die junge Frau für ihre Toilette brauchte.

Oben in Elsa’s Stübchen hatten zwei alte Frauenhände das einfache weiße Battistkleid zurecht gelegt, welches das junge Mädchen zu Weihnachten geschenkt bekommen; und die zwei kleinen Goldkäferschuhchen standen, schmal wie die eines Kindes, auf dem Tische vor der alten Dame. Hier und da hatte sie eine rosa Schleife angenäht, mit wahrer Seligkeit; es war doch auch keine Kleinigkeit, das Pflegekindchen zum ersten Male zum Tanze zu führen. Sie hatte sich dann selbst in das Grauseidene geworfen, hatte die Lampe angezündet und sich einen Roman von Hackländer geholt. Nun wartete sie auf Else, um ihr behülflich zu sein, denn es galt, rasch Toilette zu machen.

Allmählich wurde es ruhiger unten; man war fertig mit den Vorbereitungen, die Stille vor dem Sturme war eingetreten. Und nun klangen die Schlittenglocken von draußen – das waren sie, Moritz, Frieda und Else mit der ganzen Gesellschaft.

Es dauerte kaum ein paar Augenblicke, und die leichten Schritte des jungen Mädchens kamen den Corridor hinauf, die Thür wurde aufgemacht – da stand sie auf der Schwelle, roth und wie außer Athem.

„Guten Abend, mein liebes, kleines Tantchen!“ rief sie und schlang beide Arme um den Hals der alten Dame. Es wehte mit ihr ein ganzer Strom wunderfrischer, kühler Schneeluft in das Gemach.

„War es schön, Maus? Hast Du Dich gut unterhalten? Komm, trink Deinen Thee.“

Aber das junge Mädchen dankte hastig; sie lief rasch in ihr Schlafzimmer und dort stand sie eine ganze Weile im Finstern und vergaß Hut und Mantel abzulegen.

Tante Lott kam herzu, um zu helfen.

„Aber, Else, da stehst Du noch, und es ist die höchste Zeit zum Ankleiden!“ Sie holte Licht und nahm dem Kinde die Sachen ab. „Ja, was hast Du denn, Else, weinst Du gar?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_089.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2020)