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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Eben sprach Frau von Tollen, und es antwortete ihr eine Männerstimme.

Käthe sank unwillkürlich auf die Schwelle nieder und blieb da auf den Knieen liegen, den schwindelnden Kopf an die steinerne Einfassung der Thüre gelehnt. Auch er? Beide! Mein Gott, was sollte das werden? In wirrem Durcheinander jagte es sich hinter ihrer Stirn. Eine erdrückende Furcht lähmte sie förmlich; zum ersten Mal kam ihr eine brennende Scham, das Gefühl ihres Unrechtes, Todesangst vor der Entwicklung der Dinge, die sie frevelhaft ins Dasein gerufen.

Die Herren sprachen jetzt ausschließlich. Die Stimme des einen und des andern scholl abwechselnd in ihr Ohr – einmal auch ihr Name.

„Wo bleibt nur Fräulein Käthe?“ Das war Wegstedt.

„Ich denke, sie wird bei meiner Mutter sein,“ erwiderte Ernst.

„Ich glaube, sie sitzt mit Fräulein Gusti zusammen und hält Pferdegespräche,“ meinte Wegstedt. „Apropos, heute ist ja Kegelabend, warum sind Sie nicht da, Herr Doktor?“

„Und warum Sie nicht, Herr Lieutenant?“

„Ich? Mir war der Abend zu schön für den Petroleumqualm und den Cigarrendampf in dem dumpfen Lokal, und es ist doch eigentlich ein ödes Vergnügen.“

„Ich hatte ähnliche Betrachtungen,“ bemerkte der Doktor.

„Merkwürdig,“ entgegnete Wegstedt nachlässig, „und Sie sind doch einer der besten Spieler!“

Frau von Tollen mischte sich mit leiser Stimme ins Gespräch. Helene fragte, ob es nicht zu kühl sei für die Mutter.

Dann sprach Wegstedt wieder. „Tantchen Tollen, ich schreibe heute noch an Mama. Haben Sie etwas zu bestellen? Ich versprach nämlich Fräulein Käthe einen Damensattel.“

„Das ist ja Unsinn, Hans,“ wehrte die Majorin verstimmt.

„Gar kein Unsinn, Pardon, – warum?“ Er sprach das sehr ungeduldig. „Wenn Sie sie nur gesehen hätten auf dem Gaul; ich wollte, sie käme erst, damit sie –“ Er brach ab.

„Ich glaube nicht, daß sie vor zehn Uhr kommt,“ hatte Helene gesagt.

„Und allein geht sie so spät?“ fragte der junge Offizier.

„Tantchen, das dürfen Sie doch nicht leiden!“ – Und plötzlich erhob er sich. „Ich gehe vielleicht doch noch in den Kegelklub.“

Käthe flog empor, ins Haus zurück und die Treppe hinan. Auf der obersten Stufe blieb sie sitzen. Sie hörte, wie er sporenklirrend über den Hausflur schritt, dann war er fort. „Gott sei Dank, heute abend spricht er nicht mehr mit Mama – aber Ernst –“. Sie kehrte wieder zurück auf ihren Lauscherposten.

Richtig! Ernst sprach. es sei doch besser, gerade unter den obwaltenden Verhältnissen, daß die Verlobung veröffentlicht werde. „Ich kam deshalb her, gnädige Frau, aber die Gegenwart Herrn von Wegstedts hielt mich ab, zu sprechen. Lange möchte ich Sie heute auch nicht mehr aufhalten, es wird feucht; nur bitten möchte ich, daß Sie meinen Vorschlag überlegen.“

„Lieber Schönberg, ich will es überlegen. Sie können wohl recht haben,“ klang es traurig.

„Freilich, Mama, es wäre das Beste für Käthe,“ sagte Helene, „es ist das Richtige; sie wird trotzig und unberechenbar durch den Zwang der Heimlichkeit. Sie hat den Herrn Doktor sehr lieb, und Du weißt ja, Mamachen, wenn wir Tollensmädel einmal einen gern haben, dann haben wir ihn ordentlich gern, und wenn wir zehn Jahre auf ihn warten sollen. Also verkürze dem armen Ding die Qual.“

Zum zweiten Male ergriff Käthe die Flucht. Des Doktors freundliches „Gute Nacht!“ an Mutter und Schwester scholl herüber. Diesmal flüchtete sie am Hause entlang hinter die Himbeerstauden an der Mauer. Sie kam erst hervor, als sie alle den Garten verlassen hatten, und setzte sich wieder auf die Schwelle. Sie wollte warten auf Hans Wegstedt. Gott mochte geben, daß er vor zehn Uhr kam, er durfte morgen noch nicht mit Mama sprechen, erst müßte der andere – der andere erfahren, daß – sie preßte die Hände ineinander – daß sie sich geirrt, als sie ihn zu lieben geglaubt, daß sie erst jetzt wisse, was eigentlich Neigung bedeute.

Und sie wartete da in der weichen duftenden Nacht, angstvoll zum Verzweifeln und doch selig ob dieses neuen Sieges über Hans Wegstedts Herz; schwelgend in der goldigen Zukunft, die ihr winkte, und durch dies alles in einen fieberhaften, halb besinnungslosen Zustand versetzt. Die Uhr des Gymnasiums schlug Zehn; sie zählte halblaut mit. „Nur noch eine Viertelstunde will ich warten,“ sagte sie. Merkwürdig, es fror sie auf einmal so, trotz der Schwüle, die Zähne schlugen ihr ordentlich leise aneinander und die Stirne ward ihr feucht.

In der ehemaligen Küche, jetzt Burschenstube, rührte es sich. Der junge Soldat ging pfeifend über den Flur, um in des Lieutenants Zimmer die Lampe anzustecken. Dann kam er zurück mit einer Wasserflasche, strich dicht an Käthe vorüber und verschwand in dem dunkeln Garten. Käthe hörte die Pumpe gehen und den Burschen dazu pfeifen:

„Die Rosen blühen im Thale,
Soldaten marschieren ins Feld.“

Ihr gestriges Gespräch, als sie das Lied mit angehört, fiel ihr ein, und plötzlich wollte ihr das Herz stillstehen vor eiskalter Gewissensangst! Oben ward jetzt ein Fenster aufgemacht.

„Käthe, bist Du da?“ rief die Stimme der Schwester.

Sie wandte sich ins Haus und stieg die Treppe empor; es war ihr, als habe sie Blei in den Füßen, so schwer wurden ihr die paar Stufen, und mitten auf der Treppe mußte sie sich halten, denn wieder schüttelte sie der Frost, und der Kopf begann heftiger zu schmerzen.

„Aber mein Gott, wo steckst Du denn?“ fragte Helene, „Du weißt doch, Mama ängstigt sich, wenn Du nicht pünktlich kommst. Warst Du bei Deiner Schwiegermutter?“

„Nein, bei Tante Melitta. Gute Nacht!“

Sie saß noch stundenlang und schrieb. Mitunter weinte sie, dann flog wieder ein stolzer Zug um ihren Mund und ein Lächeln. Jetzt wieder mußte sie aufhören, so elend fühlte sie sich, so schmerzte sie der Kopf. Endlich war sie fertig. „Bewahre ein freundliches Andenken Deiner Käthe von Tollen,“ hatte sie geendet. Sie konnte sich nicht entschließen es noch einmal durchzulesen, dieses Stammeln um Verzeihung, dieses Schuldgeständniß und diese Anklagen.

Sie schob die engbeschriebenen Seiten in ein Couvert und adressirte dasselbe. Als sie den Brief mit dem goldgesprenkelten Siegellack siegeln wollte und dazu den Wappenring, ein Konfirmationsgeschenk der Eltern, vom Finger zog, sah sie zufällig auf und in den kleinen Spiegel, der über dem Tischchen hing, an dem sie saß. Ein blasses, erschrecktes Gesicht blickte ihr mit einem Paar großer, flackernder Augen, unstet, wie die Schuld sie hat, entgegen; die Stirn lag halb verschattet vom zerwühlten Haar. – Unheimlich war das Bild. Und droben, in der Ecke des Glases, schimmerte wie bei einem alten Gemälde der Tollensche Wappenhund auf silberner Mauer, den sie gemalt; „Treu und fest“ stand darunter. Sie starrte wie gebannt in den Spiegel, ein furchtbares Grauen beschlich sie. Ihr war, als sähe sie des Vaters Gesicht hinter sich – zürnend, drohend.

„Was ist aus Dir geworden, Käthe?“ meinte sie zu hören. „Du bist aus der Art geschlagen, Käthe, aus der ehrlichen, vornehmen Art der Tollens; Du bist eine – Betrügerin!“

Wie eine Verfolgte sprang sie auf und barg den Brief in der Kleidertasche, und sie flüchtete sich in ihr Bett und zog die Decke über sich. Wieder schüttelte sie ein kurzer Frost, dem eine glühende Hitze folgte.

„Lieber Gott, hilf mir nur noch dies einzige Mal!“ flehte sie. Es war ihr, als säße sie auf dem Pferde, und das rase mit ihr im Kreise herum, immer herum, immer herum, bis sie schwindlig wurde und alles vor ihr versank.

Dann ertappte sie sich dabei, daß sie sprach; sie erschrak darüber. Wie kam sie dazu, nach Lore zu rufen? Lore war doch nicht hier, Lore war in dem Krankenhause zu Berlin, und ihr stilles Gesicht bog sich vielleicht eben über ein fieberndes sterbendes Menschenkind.

„Bleib bei mir, Lore,“ sagte sie, denn sie sah greifbar deutlich die Schwester vor sich, „bleib bei mir, ich will anders werden, Lore, ich will vernünftig sein, ich will alles an Ernst bestellen; sei mir nur nicht böse und laß mir den Hans. O mein Kopf, mein Kopf!“ Und sie streckte die Arme nach der Thür aus und saß aufrecht im Bett mit wahnsinniger Angst. „Ich will noch nicht sterben, ich will’s ja wieder gutmachen, was ich gethan. Singt nur das schreckliche Lied nicht mehr!“ Und als sie wieder zurückfiel in die Kissen, flüsterte sie. „’s thut wunderselten gut, wunderselten, Gusti, er darf ihn nicht todtschießen!“

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_291.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)