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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

für eine spätere höhere Laufbahn, und ich muß wirklich sagen, daß es ihnen bei dem Mangel an fähigen Köpfen nur gut thun könnte, einen Mann von Hugos geistiger Bedeutung zu haben.

Hugo sollte unbedingt an einen einflußreicheren Posten, er ist ganz dazu gemacht und sitzt nun in dem ewigen Einerlei der Bureauarbeit, welche einen Geist wie den seinigen ermüden muß. Da ist es denn kein Wunder, wenn er manchmal verstimmt ist.

Alles dies ganz unter uns, liebe Marie! Es ist der einzige Schatten, der manchmal in unser Glück fällt –“

Ein kräftiges bestimmtes Klopfen an der Zimmerthür unterbrach den angefangenen Satz.

„Das ist Tante Linchen,“ rief Moritz zugleich mit dem „Herein!“ seiner Mama.

In der geöffneten Thür stand eine große breite Frauengestalt, deren braunrothe Wangen unter einem sturmgeprüften Filzhut hervorschienen. Der Schatten eines Bärtchens lag auf der keineswegs zierlichen Oberlippe, und eine stattliche Habichtsnase wölbte sich darüber her.

„Richtig, da sitzt ja das ganze Lesekabinett wieder beisammen,“ sagte sie bedächtig mit einer männlich tiefen Stimme. „Ihr seht aus wie das Titelbild eines neuen Familienblatts, das ich neulich sah, wo alles liest, das Ehepaar, die Schuljugend, die Kindsmagd und das Wickelkind, während ringsherum die Bäume umsonst blühen. Ist das eine Zeit!“

Sie hatte während dieser Rede ihren Mantel und den alten Rembrandthut mit der verregneten Feder auf die Diwanecke geworfen und zeigte nun ihre starke Figur in einem Kleide von grobem Wollstoff, welches offenbar der Zweckmäßigkeit größere Rechnung trug als der Schönheit. Auf Schönheit ging Fräulein Linchen in richtiger Selbsterkenntniß überhaupt nicht aus.

„Wem der Herrgott so ein Gesicht gegeben hat wie mir, der braucht nicht viel Zeit, um in den Spiegel zu gucken,“ sagte sie gemüthsruhig.

Aergerlicher war ihr die aus Versehen im Laufe der Jahre stehen gebliebene Verkleinerungsform ihres Namens, welche so wenig zu dem Großfolioformat ihrer Persönlichkeit passen wollte. Aber Namen haften bekanntlich fest, und wer einmal von zwei Geschlechtern „Linchen“ genannt worden ist, der bringt’s bei dem dritten zu keiner „Lina“ mehr, geschweige zu einer „Karoline“!

Doch auch dies focht sie nicht allzu sehr an, die treffliche Künstlerin, wenn sie vor ihrer Staffelei saß und unermüdlich das menschliche Angesicht nach seinen verschiedenen Gestalten und Farben auf die Leinwand brachte. Ihre Porträts schmeichelten nicht – „das hat man der Natur gegenüber nicht nöthig“, pflegte sie zu sagen – aber sie waren frisch und tüchtig gemalt und fanden stets guten Absatz.

So genoß Fräulein Karoline Wiesner eine angenehme Unabhängigkeit, die sie dazu verwendete, ihr eigenes Leben zu gestalten, wie sie Lust hatte, ihren Freunden die Wahrheit zu sagen und durch samaritanische Nächstenliebe die Wunden wieder zu heilen, welche ihre furchtlose Zunge gelegentlich der Eitelkeit ihrer Nebenmenschen schlug. An Emmys heiterem Wesen hatte sie gleich von Anfang an Gefallen gefunden, sich dann ernsthaft mit der jungen Frau befreundet und auch von Herzen gern die Tantenwürde bei ihren Kindern übernommen. Da sie mit Walters im gleichen Hause wohnte, kam sie oft abends beim Heimweg vom Atelier für eine Stunde herein und war ein von groß und klein gerngesehener Gast.

„Nun sagt mir einmal, ihr armen Kinder,“ fuhr sie in ihrer Rede fort, „was ihr an den vertrakten Büchern habt, daß ihr euch kurzsichtig und stumpfsinnig daran lest? Wißt ihr denn mit euren Freistunden nichts Besseres anzufangen? Da heißt es immer: ‚die Kinder müssen ihre Augen mit den Schulaufgaben so sehr anstrengen!‘ Jawohl, wenn sie mit denen fertig sind, so setzen sie sich hin und lesen freiwillig weiter, bis sie Lustigkeit und gute Einfälle darüber verlieren und hinterher doch nichts von dem behalten, was sie gerade verschlungen haben.“

Die drei Großen sahen verwundert in die Höhe. Klein Maja, die nur begriffen hatte, daß vom Lesen die Rede war, und sich gerne zeigen wollte, legte sich mit dem halben Leib über ihr Oskar Pletsch-Buch auf den Tisch, fuhr mit den Fingerchen über die Zeilen und sprach feierlich:

„Nein, für Ypsilon und Itts
Weiß ich, Tinder, wahrlich nitts.“

„Na, da haben wir’s ja,“ rief Tante Linchen mit lautem Lachen „Komm, Du kleiner Spitzbub’, gieb mir einen Kuß! Du thust ja doch nur so, bist noch rein von dem Leselaster!“

„Aber was sollen wir denn sonst anfangen?“ wendete nun Fritz ein, indem er behutsam und voll geheimer Hoffnung den Finger auf die Stelle schob, die unvergleichlich spannende Stelle, aus welcher ihn Tante Linchen herausgerissen hatte. Vielleicht ging es doch mit einer kurzen Predigt ab und sie verzog sich bald wieder!

„Was Ihr thun sollt? Springen, Herumlaufen. Spektakel machen!“

„Hier?“ fragte Moritz, indem er mit seinen kurzen und schwärzlichen Fingern einen Kreis über das porzellangeschmückte Buffet, den Blumenständer und das japanische Theetischchen beschrieb.

„Hast recht, Junge, hier in dem schönen Eßzimmer ist’s freilich unmöglich, aber warum habt Ihr denn nicht ein ganz einfaches Kinderzimmer, Emmy?“

„Rechne doch nach, Linchen! Sechs Zimmer haben wir, zwei davon sind Schlafzimmer der Kinder, eines brauchen wir. Bleibt noch Hugos Studierstube, Salon und Eßzimmer, in welchem sie abends sein müssen, damit die Luft in ihren Schlafräumen frisch und rein ist.“

„Die Hygieine!“ seufzte Fräulein Karoline, „die unglückliche Hygieine, die zu meiner Zeit noch nicht erfunden war! Wie viel besser hatten wir es in dem kleinen Wolframszell! Da wies unsere Kinderstube – Schnurrenhöhle nannten wir sie – vier gelbgetünchte Wände auf, an welchen die Betten standen, in der Mitte einen gescheuerten Tannentisch, sechs Hocker ohne Lehne darum her und einen Schrank für Lern- und Spielsachen. Das war die Ausstattung. Mit den Hockern machte man Eisenbahn und Extrapost, auf dem Tisch wurden erst die Aufgaben geschrieben und dann gekocht, gepappt, geschnitzt und gemalt; an die Wände schrieb und zeichnete man alles, was einem über die Geschwister einfiel –“

„Das muß lustig gewesen sein,“ sagte mit glänzenden Augen der dicke Moritz, der sich zusehends für dieses Erinnerungsbild erwärmte.

„Und alle paar Jahre einmal erschien der Tüncher und putzte die ganze Chronik herunter. Dann fing man wieder von vorne an; über die erste Inschrift wurde gezankt, dann kamen immer mehr, und zuletzt mußte die Mama selbst lachen über all den Unsinn,“ schloß Tante Linchen ihren Bericht.

„Ihr habt überhaupt viel mehr ‚thun dürfen‘ als wir,“ seufzte Moritz mit verhaltener Entrüstung.

„Aber auch viel mehr Prügel dafür bekommen, mein Sohn, wenn’s übel ausging.“

„O Tante!“ rief er begeistert, „lieber mehr Prügel und nur nicht so ‚fein‘ sein müssen!“

„Nun ist’s genug,“ warf die Mutter dazwischen, „Du machst mir ja die Bande ganz aufrührerisch! Komm lieber da hinein“ – sie öffnete die Thür in den Salon – „daß man ein ungestörtes Wort zusammen reden kann.“

„Ja, Du hast recht,“ erwiderte Fräulein Linchen, während sie mit zwei großen Schritten über die Schwelle war. „Kinder müssen nicht alles hören. Allein deswegen ist doch wahr, was ich sagte!“

Emmy ergriff ihre beiden Hände. „Wenn Du wüßtest, wie schwer es ist, Kinder zu erziehen in einer großen Stadt, eingeengt durch die Verhältnisse, mit schmalen Mitteln, über die man nicht hinaus kann, mit der steten Rücksicht auf andere –“

„Weiß ich, Kind, weiß ich!“ nickte das Fräulein gutmüthig. „Kann Dir sagen, daß ich deswegen Euch verheirathete Leute nicht beneide. Aber ich habe so meine eigenen Gedanken, wenn Du auch vielleicht meinst, die alte Jungfer versteht das nicht. Ihr vergrößert Euch die Schwierigkeiten selbst mit dem ewigen Streben nach Schick und könnt auf der andern Seite den Kindern zu wenig von dem erlauben, was ein Kinderherz freut. Glaubst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_019.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)