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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Er war immer ernst und nachdenklich, aber eigentlich niemals traurig. Er verlor sich nie in sentimentalen Klagen oder ohnmächtigem Aufbäumen gegen sein Geschick. Still in das Unabänderliche ergeben, sog er aus allem reine, unausgesprochene Freude: aus dem Zufall, der ihm Magda zur Nachbarin und Freundin gegeben, aus der Gunst, nicht hungern zu müssen und malen zu können, was er wollte, ja sogar aus seiner Krankheit, die ihm Magdas liebevolle Fürsorge eintrug.

Seine Wirtin glaubte manchmal, ihn beklagen zu müssen. Sie war eine gute, aber etwas wichtigthuende Person, deren Gatte in der Hofkanzlei einen Posten als Bureauvorsteher bekleidete. Infolgedessen sprach die Frau Böhmer immer von „Seiner Hoheit“ und „Ihrer Hoheit“, als sei sie täglich in persönlichem Verkehr mit den Herrschaften und als werde das Budget des herzoglichen Hauses von ihrem Manne bestimmt und im Gleichgewicht gehalten.

Aber wenn sie mit ihrem zudringlichen Mitleid ankam, setzte ihr Nicolai auseinander, daß man nie die Blicke auf diejenigen gerichtet halten müsse, die es besser hätten, sondern daß man nach unten zu schauen habe, wo größeres Elend und wahre Not sei.

Nein, er fand kein Recht, sich unglücklich zu nennen. Ein Leben, das mit harmonischer Arbeit und mit einer reinen Liebe ausgefüllt ist, bleibt immer beneidenswert, auch wenn der Träger desselben weiß, es kann kein langes sein.

Lang oder kurz – es kommt auf des Daseins Inhalt an. Achtzig Jahre voll Gesundheit und Unzufriedenheit sind weniger als dreißig voll innigster Harmonie.

Nicolais Seele war von einer wahrhaft vornehmen Zufriedenheit erfüllt – erfüllt gewesen, bis zu dem Tag, wo er erfuhr, daß Magda einen andern liebe.

Da kam eine quälende Unruhe über ihn. Er wollte sich nicht gestehen, daß dies Eifersucht sei, und redete sich ein, daß nur Sorge wegen Magdas Liebeswahl ihn erfülle. René Flemming? Gerade diesen hatte sie erkoren, der durch seinen Beruf und persönliche Veranlagung der wenigst Geeignete war, sich stetigem und ergebenem Frauendienst zu widmen! Und Nicolai, der so wenig von den Bedürfnissen eines Frauenherzens wußte, dessen feine fast weibliche Psyche nicht befähigt war, einen Mann wie Flemming ganz in seiner Wirkung auf Frauen zu beurteilen, Nicolai verstand die Wahl einfach nicht. Gewiß, René Flemming hatte etwas Bestrickendes, er selbst erlag immer dem Zauber seiner sonnigen Persönlichkeit – aber daß Magda diesem Mann ihr Leben anvertrauen wollte – nein, das begriff er doch nicht.

Aber als er nun das strahlende Glück in Magdas Angesicht las, als sie so schön erblühte, daß es schien, als sei bisher all ihr Jugendreiz versteckt gewesen, gelang es ihm, seine Unruhe zu bemeistern und in seiner grenzenlosen Ergebung für Magda dem Manne dankbar zu sein, der ihr diese Sonnenzeit gab.

Um nicht zu viel zu grübeln, um alles, was sich an bitterem Schmerz etwa regen und das Gleichgewicht seiner Seele stören wollte, gar nicht aufkommen zu lassen, fing Nicolai an, gegen alle seine Gewohnheit eifrig zu arbeiten.

Sein großes Bild „Das Glück küßt zum erstenmal die Stirn eines Menschen“ stand fertig auf der Staffelei. Er suchte nach einem knappen Titel dafür und war noch gar nicht mit sich einig, ob er es ausstellen solle. Der Engel trug doch ihre Züge und er bedachte, daß man dies bemerken könnte.

Er fing sogleich ein anderes an. Er arbeitete nicht nach dem Modell, sondern fand für seine visionären Gestalten in seinen mit Aktstudien gefüllten Mappen immer die nötige anatomische Grundlage. Jetzt wollte er eine „Sommernacht“ malen. Zwischen den Stämmen eines Waldes, der vom silbernen Mondlicht wie durchwirkt erschien, sollte eine hohe, blasse Frauengestalt hervortreten, mit einem schwülen Liebeslächeln auf den Lippen. Aber die Gestalt sollte transparent sein, einer mystischen Erscheinung gleichen.

Er hielt sich jeden Morgen viele Stunden an die Arbeit und sein Husten ward ärger.

Frau Böhmer, die trotz ihrer bedeutenden Stellung gern ein wenig mit Kathi klatschte und alle Hausbewohner abfällig beurteilte, klagte sehr, daß Herr Nicolai wieder Blut aushuste. Während sie ihn bemitleidete, wußte sie ihre christliche Opferwilligkeit für ihn in ein ausgezeichnetes Licht zu stellen. –

Da sah Nicolai, daß der Sonnenschein von Magdas Stirn entwich und daß ihr Wesen in wartende Unruhe geriet. Er merkte, auch ohne aufzupassen, daß René nicht kam und daß Magda nicht ausging, daß sie sich also nicht sahen.

Eine große Angst kam in sein Herz. Er ging jeden Tag wohl zehnmal hinüber, um nach dem alten Ruhland zu sehen, und seine Augen hafteten dann voll Sorge und mit unausgesprochenen Fragen auf Magdas Gesicht. Er ahnte nicht, daß er ihr damit eine große Qual bereitete. Das Anrecht seines Herzens an ihren Kümmernissen war ihm etwas so Selbstverständliches, daß ihm nicht der Gedanke kam, er sei zudringlich mit seinen Frageblicken.

Er schlief keine Nacht mehr ruhig und sein Befinden verschlechterte sich mehr und mehr.

Und seit Sonnabend abend wußte er gewiß, daß Magda ein großes Unglück zugestoßen sei. Er hatte Frau von Eschen auf der Treppe gesehen, sie war ohne den gewohnten freundlichen Gruß an ihm vorbei weiter hinabgegangen. Ihr Gesicht war abgespannt gewesen und erschien sehr alt.

Nicolai fragte an der Etagenthür an, ob es dem alten Herrn schlechter gehe, aber Kathi sagte, es gehe wie gewöhnlich. Und dem gnädigen Fräulein? Das Fräulein sei nicht wohl.

Er wußte genug.

Von einem thörichten Gefühl getrieben, ging er wieder fort, in den Abendnebel hinein, und wanderte vor Renés Fenstern auf und ab. Von drinnen her leuchtete so friedlich eine Lampe.

Nicolai war, als müßte er mit der Faust gegen das Fenster schlagen, daß es zersplittere, und müßte hineinrufen: „Was hast Du ihr gethan?“

In seinen Adern brannte Fieber. Kaum schleppte er sich wieder heim. Seinem Atem that der klebrige Nebel unsäglich weh.

Er wagte am anderen Tag eine Frage an Magda. Sie schüttelte nur den Kopf und hörte nicht einmal, daß Nicolais Stimme rauh war, daß seine Brust sich mühsam hob. (Fortsetzung folgt.)


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Adolph Menzel.

Von Ludwig Pietsch.

Dasselbe Jahr 1815, welches Deutschland und Europa den Frieden und die endgültige Befreiung von der Besorgnis der Möglichkeit einer Wiederkehr der Unterjochung und Fremdherrschaft gab, hat noch eine andere hohe Bedeutung und Wichtigkeit für unser Vaterland erhalten. Unter den Knaben, welche in deutschen Häusern in jenem Jahre das Licht der Welt erblickten, waren zwei, die, zu Männern erwachsen, dem deutschen Namen auf zwei ganz verschiedenen Gebieten den höchsten Ruhm bei den Menschen erwerben und der größte Stolz unseres Volkes werden sollten. Der eine von ihnen wurde in dem einfachen Herrenhause auf dem Landsitz eines märkischen Edelmanns, des Herrn von Bismarck auf Schönhausen, geboren. Der andere in einer bürgerlichen Mietwohnung zu Breslau, der Sohn des Vorstehers einer Mädchenschule, Namens Menzel. Jener war berufen, dem deutschen Volk ein Vaterland zu schaffen, das mehr als ein „geographischer Begriff“, das ein geschlossenes, großes, mächtiges, einheitliches Reich ist. Der andere: in zahlreichen Werken des Stiftes und Pinsels die Muster einer wahrhaft originalen und wahrhaft nationalen gesunden Kunst zu geben und die deutsche Malerei zur Erkenntnis der Natur und der Schönheit in der Wahrheit zurückzuführen. Beide sind wie die deutschen Eichen „kernfest und auf die Dauer“. Die gewaltigen Heraklesthaten im Dienste des Vaterlandes haben des ersteren Kraft so wenig aufzureiben vermocht wie die ungeheure nie rastende schöpferische, künstlerische Arbeit die des andern. An der dem Menschendasein, „wenn es hoch kommt“, gesetzten Grenze, dem Abschluß des achtzigsten Lebensjahres, angelangt, stehen Fürst Bismarck und Adolph Menzel noch immer so schaffenskräftig,

so geistesmächtig und den jüngeren Nachwuchs so weit überragend wie vor manchen Jahren da. Dem großen Künstler aber fiel das glücklichere Los: ihn hemmt und hindert nichts, diese Geisteskraft noch immer in jedem Augenblick auf seinem eigensten Gebiet zu bethätigen. Dem großen Kanzler ist es versagt. Lange

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_794.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2023)