Seite:Die Gartenlaube (1898) 0230.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

 (1. Fortsetzung.)

Wenige Wochen später hielt eines Vormittags ein geschlossener Mietswagen vor dem Portal des Schlosses. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, um Leute herbeizurufen, es kam aber niemand. Er mußte vom Bocke steigen und den Schlag öffnen. Zwei alte Damen verließen das Gefährt und glitten leise und schweigend wie Schatten durch die Halle über den Gang mit den vergitterten Fenstern und den großen feuchten Flecken an den Mauern. Vor der Treppe hielten die beiden einen Augenblick an. Sie bebten vor unterdrückter Gemütsbewegung und atmeten schwer. Langsam ging’s die Stufen hinauf, an der Thür vorbei, die zu den Gemächern der verstorbenen Herrin führte, weiter bis zur Wohnung Kosels. Noch immer ließ niemand sich blicken. Im Vorzimmer begegneten die Schwestern der ersten menschlichen Seele. Ihre irdische Hülle hatte den Umfang eines mäßigen Bierfasses, trug ein braunes Jackett, eine weiß und rot gestreifte Weste und chamoisfarbige Filzpantoffeln. In einen großen Lehnsessel zurückgelehnt, schlief sie, schon bei hellem Tage, den süßen Domestikenschlaf.

Charlotte streifte die kolossale Gestalt mit einem mißbilligenden Blick und sagte: „Natürlich,“ und als sie in das nächste Zimmer kam, das kläglich unaufgeräumt war und in dem alles nach Besen und Staubtuch schrie, sagte sie abermals: „Natürlich!“

Renate aber seufzte schmerzlich: „Armer Mensch, wie’s bei ihm aussieht!“

Nun rührte sich’s im großen, anstoßenden Wohngemach, zu dem die Flügelthür offen stand; ein Sessel wurde gerückt, Felix erschien auf der Schwelle.

„O, o, die Tanten!“ sprach er halblaut und verneigte sich höflich und fremd. Sein schönes Gesicht war dunkelrot, er befand sich in der peinlichen Verlegenheit, die ihn beim Wiedersehen nach längerer Trennung, auch von seinen nächsten Verwandten, ergriff.

Die Schwestern ließen ihre Rührung nicht aufkommen, stellten einige gleichgültige Fragen und verlangten dann, die Kinder zu sehen.

„Die Kinder?“ In dem Augenblick schien er sich zu besinnen, daß er welche hatte. „Die Kinder, ja. Die Buben – wo die nur sein mögen? Im Garten, oder im Meierhof vielleicht. Kopetzky weiß es vielleicht und ist vielleicht so gut und holt sie.“

Kopetzky war sehr überrascht, als er hereingerufen und ihm mitgeteilt wurde, welche Erwartung man auf ihn setzte. Er versprach gar nichts, und als die Damen, von Kosel begleitet, sich auf den Weg machten, um die Kleine zu besuchen, blickte der treue Diener ihnen voll stiller Empörung nach und murmelte: „Jetzt geht die Weiberwirtschaft und ’s Putzen wieder an.“

Um zu der Kleinen zu kommen, mußte man eine lange Zimmerreihe durchschreiten. Den Saal, der fünf hohe Bogenfenster hatte, und vortrefflich gemalte Säulenstellungen, grau in grau, und dazwischen allerlei mythologische, etwas gespensterhaft dreinschauende Figuren. Das Musikzimmer, den großen Salon und dann den kleinen, in dessen einem Fenster der Schreibtisch Friederikens stand. Kein zierliches Möbelstück, ein Schreibtisch, an dem ernst gearbeitet worden war, auf dem noch die großen Wirtschaftsbücher lagen, die sie gewissenhaft und genau geführt und die gewiß seit ihrem Tode nicht aufgeschlagen worden waren. Im Schlafzimmer nebenan alles noch wie einst. Das Doppelbett unter dem seidenen Baldachin, die Toilette ihm gegenüber, der Ankleidespiegel in der Ecke. Dieses Zimmer war besser gehalten als die übrigen, man sah auch, daß es in Benützung stand.

„Du schläfst noch hier?“ fragte Charlotte.

„Immer noch,“ erwiderte er und errötete neuerdings.

„Und die Kleine wohnt nebenan, wie früher?“

„Wie früher.“

„Stört sie dich nicht?“

„Die hört man gar nicht, die ist sehr still, wird bald ganz still sein,“ versetzte er und machte dazu seine gewöhnliche Miene sorgenvoller Heiterkeit, wegen der seine Frau ihn oft geneckt hatte.

„Armer Mensch, armer Mensch!“ flüsterte Renate, erschrak über die unwillkürliche Aeußerung ihrer Teilnahme und schritt rasch auf die Thür des Kinderzimmers zu. Sie öffnete sich, ein Schrei des Jubels erscholl. Apollonia rannte den alten Damen entgegen, küßte ihre Hände, konnte sich vor Freude nicht fassen.

„Daß Sie nur endlich da sind! Mit welcher Sehnsucht hab’ ich Sie erwartet! Endlich, endlich! Wie oft hab’ ich gedacht: Wenn Sie sie nur noch am Leben treffen!“ – Sie deutete auf Elika, „die Kleine, Gott im Himmel …“ rief sie und brach in lautes Schluchzen aus.

„Ja, Poli, ja,“ sagte Kosel, „aber geben Sie acht, sehen Sie die arme Kleine.“

Die arme, ja wirklich, die arme Kleine.

Sie saß, schneeweiß gekleidet, auf einem Teppich in der Mitte ihrer wohlausgepolsterten Gehschule. In ihrem durchsichtig bleichen Kindergesichtchen sprach sich Schrecken und Empörung über den lärmenden Freudenausbruch ihrer Wärterin aus. Ihre großen, blaßblauen Augen betrachteten die schreiende Apollonia strafend und vorwurfsvoll, aber sie regte sich nicht, und es kam kein Laut über ihre schmalen bleichen Lippen. Sie war schwach und so winzig! Die Kopfhaut schimmerte durch die spärlichen, hellblonden, an den Enden leicht gelockten Haare, der Mund, die feine Nase, die hohe Stirn waren merkwürdig ausgebildet, was bei dem kümmerlichen kleinen Wesen den Eindruck der Zwerghaftigkeit machte. Noch seltsamer, unheimlich fast, war die nachdenkliche frühreife Klugheit, die aus den Zügen des zarten Antlitzes leuchtete, und das resignierte Leiden, das über ihnen lag wie ein trübender und – verklärender Hauch.

Bei den alten Damen löste sich jede Empfindung, die das Kind ihnen einflößte, in grenzenloses Mitleid auf. Sie knieten nieder und sprachen zu der Kleinen liebreich und zärtlich. Sie hatte den Kopf gesenkt, warf von unten herauf einen scheuen Blick nach ihnen und bedeckte plötzlich die Augen mit den Händen, deren gelbliche dünne Fingerchen an die Klauen eines jungen Vogels mahnten.

„Nicht anschauen die arme Kleine,“ sagte sie, „nicht anschauen!“


Die Schwestern gingen in den Sibyllenturm. Ihre Reiseeffekten waren inzwischen hinaufgeschafft worden, der Schloßwärter und seine Frau schossen herum und bejammerten, daß die Damen ihre Ankunft nicht angekündigt hatten, sie würden zu ihrem Empfang alles bereit gefunden haben.

Während die Leute die Zimmer im zweiten Stocke bewohnbar machten, warteten Renate und Charlotte im ersten, in dem schönsten Gelaß des Turmes. Ein hoher, ovaler, edel gewölbter Raum, der seinen schlanken Pilastern und den zierlichen Stuccaturen an den Wänden und an der Decke ein festliches Aussehen verdankte. Jetzt freilich sah es darin nicht sehr einladend aus. Die köstlichen Empiremöbel in der Mitte zu einem Berg aufgeschichtet, die Friese und Säulenkapitäle von Guirlanden aus Spinnenweben umrankt. Und die Luft, halb Rumpelkammer und halb Kellerluft, war dumpf und muffig, und es roch nach Mäusen.

Charlotte langte einen Sessel vom Möbelberg herunter, staubte ihn, so gut es ging, mit dem Taschentuche ab und stellte ihn für die Schwester hin.

„Ich wollte nichts sagen,“ sprach Renate sich setzend, „um niemand Unannehmlichkeiten zu machen, aber das Erstaunen über unser Kommen ist kurios.“ Sie gebrauchte da, was sie ungern that, einen ihrer stärksten Ausdrücke: „Es kam mir schon ganz eigen vor, daß wir keinen Wagen aus Velice auf der Station fanden. Wir haben uns doch bei Felix angesagt, du und ich.“

„Er wird unsere Briefe nicht gelesen haben,“ erwiderte Charlotte. „Ich habe auf seinem Schreibtisch einen Haufen uneröffneter Briefe liegen gesehen. Die unsern werden dabei sein.“

Renate schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht glauben.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0230.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)