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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)


"Obwohl der größte Theil der Meister in diesem Viertel ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat und die Weber desselben beschäftigt, haben daneben doch beinahe alle ihre Factoreien in den Provinzen, hauptsächlich in Lancashire. Die Weber von Spitalfields können in der Herstellung von Sammt und glatten Seidenstoffen unmöglich gegen die billigeren Arbeitslöhne und die potenzirte Kraft der Maschinen ankämpfen. Sie krümmen sich unter dem Drucke einer unverhältnißmäßig großen Uebermacht. Wollen Sie ein paar Schritte um die Ecke machen? Dort können Sie mit eigenen Augen eine Familie in diesem hoffnungslosen Kampfe begriffen sehen."

"Und ist keine Hülfe möglich?" fragen wir, indem wir zusammen die Treppe hinabsteigen.

"O ja," lautet die Antwort. "Auf dem Lande, z. B. in Suffolk, wo wir eine Fabrik für Handweber errichtet haben, gibt es bessere und billigere Nahrung, für die Lungen sowohl wie für den Magen."

"Sie meinen wohl, die bessere Luft würde das viele Trinken ersparen?"

"Allerdings. Denken Sie sich den ganzen Tag über in eine dumpfe Stube eingeschlossen, wie da Ihr Körper nach vierzehnstündiger Einathmung einer schlechten, ungesunden, mit Miasmen aller Art geschwängerten Atmosphäre zusammenknicken würde - daneben die harte Arbeit selbst; und bedenken Sie auch, was für Selbstverläugnung dazu gehören müßte, sich vom Genusse eines stimulirenden Getränkes - eines Glases schlechten Wacholderbranntweins allenfalls - zu enthalten. Andrerseits aber hat man die Erfahrung gemacht, daß die frische Luft, die um den Webestuhl auf dem Lande weht, allein genügt, den Arbeiter zu kräftigen, und ihm den Branntwein zu ersetzen."

"Die Londoner Luft soll, wie man sagt, dem Fabriksarbeiter an und für sich schädlich sein. Ist das wahr?"

"Du lieber Gott", erwiedert Herr Bradelle, und bleibt, sich auf seinen Stock stützend, eine Minute stehen, "die beiden schweren Nebeltage im December Anno fünfzig waren für unsere Firma ein reiner Verlust von hundert Pfund Sterling. Der schwarze Gott sei bei uns, der doch in der ganzen Welt weiter nicht so schwarz als in London zu finden ist, fraß sich in die weißen Atlasse hinein, und trotz aller Vorsicht unserer Arbeiter sahen sie am nächsten Tage grau wie Trauerstoffe aus. Zwölf Stunden später, und sie waren ärger als grau: schmutzig, fuchsig, unverkäuflich. Man konnte sie nicht einmal mehr anständig färben. Zufällig hatte ich eine Bestellung abzuliefern; da schickte ich nach unserm Etablissement in Suffolk, um die Lücke auszufüllen, und sieh' da, meine weißen Atlasse an demselben Tage wie die in London gearbeitet, kamen herein weiß wie gefallener Schnee." – –

Mr. Bradelle's einfache, schlichte Erzählungsweise gibt Stoff genug zum Nachdenken, nicht allein über das Schicksal der arbeitenden Classen in London, sondern in allen Fabrikstädten überhaupt. Wenn man bedenkt - und wir wollen unsere Reflexionen nicht über Spitalfields hinausschweifen lassen, - wenn man bedenkt, wie viel der Arbeiter und dessen Erzeugnisse durch die unpassende Lage seiner Arbeitsstube zu leiden haben, muß es geradezu unbegreiflich scheinen, daß die Weber selbst nicht alles Mögliche aufbieten, aus dieser beeinträchtigenden, schädlichen Atmosphäre hinauszukommen, zumal da ihre Arbeitgeber sie dabei gerne unterstützen würden.

Vierzehn bis siebzehntausend Webestühle stecken in den eilf- oder zwölftausend Häusern von Spitalfields, obwohl in diesem Augenblicke kaum mehr denn neun- bis zehntausend davon im Gange sind. Durchschnittlich stehen siebzehn solcher Häuser auf einem (engl.) Acker Landes, während die Durchschnittszahl im übrigen London ungefähr fünf und ein Fünftheil per Acker beträgt. Somit hat Spitalfields die bei weitem gedrängteste Bevölkerung. Innerhalb seiner beschränkten Grenzlinie leben nicht weniger als 85,000 Menschen eingepfercht.

"Aber," sagt Freund Bradelle, "unsere Weberfamilien sind so sehr in einander verschlungen, so sehr durch Verschwägerung, Freundschaften, Vorurtheile und Schulden an dieses Quartier gekettet, daß sie, trotz aller Vorschläge ihrer Arbeitgeber, ihnen Wohnungen auf dem Lande zu verschaffen, es bis auf den heutigen Tag vorgezogen haben, in diesem elenden Stadtwinkel ihre wahrhaft unglückliche Existenz fortzuführen. Spitalfields war die Nekropolis Londons zu Zeiten der Römer. Die officiellen Todtenlisten weisen nach, daß es die habgierigste Grabstätte des modernen Londons ist. In diesem Quartier ist die Sterblichkeit größer als in irgend einem Kirchspiel unserer Hauptstadt." – –

Und wie fremdartig die Straßen aussehn! Diese hohen schornsteinähnlichen Häuser, mit den vielen Fenstern in den obern Stockwerken, - sehn sie nicht wie die Häuser einer fremden Stadt aus, mit Ausnahme des Rußes, der ihnen sehr verschwenderisch zugetheilt ist? Beinahe könnte man glauben, die flüchtigen Hugenotten hätten ihre Wohngebäude und Straßen mit sich über's Meer genommen, und sie hier wieder aufgebaut. Und diese Menge kleiner Kramläden! Wozu denn diese alle offen sein mögen? Es ist ja nichts zu verkaufen darinnen! Ein paar kleine Bündel Holz zum Feueranmachen um einen halben Penny, ein Kinderdrache um einen halben Penny; ein Lederball um den vierten Theil eines Penny, das heißt hier ein Laden. Eßwaaren tragen ihren Werth in sich selber, die braucht man nicht erst auszustellen. Mögen die Brotlaibe noch so schwammig sein, noch so schmutzig übereinander in des Bäckers Laden hängen, am Ende ist's doch Brot, und das ist die Hauptsache. Ochsenleber, Talglichter und Kalbsköpfe, gräulich marmorirte Würste und sandige schwarze Kuchen sind auch ohne Verzierung sehr lockende Artikel, nach denen die Mäuler von Spitalfields lüstern sein würden, und wären sie auch noch viel häßlicher und unschmackhafter als sie sind. -

"Aber sieh' da, auch in diesem Quartier des Elends ein Stück Literatur! kauft denn der Arme diese alten, erbärmlich colorirten Blätter und schmutzigen Holzschnitte, die dort am Ladenfenster angeklebt sind? Setzt er sich nach vierstündiger Arbeit an’s Kohlenfeuer hin, um diese abscheulichen Machwerke durchzulesen, um sein sorgenverzehrtes Herz mit diesem Abhub französischer und englischer Literatur aufzufrischen?"

"Ich kann's Ihnen wahrhaftig nicht sagen," erwidert Mr. Bradelle, "wir wissen sehr wenig von ihrem häuslichen Treiben. Sie leben unter sich abgeschlossen, und sind unser Einem gegenüber sehr argwöhnisch. Einmal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_015.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2019)