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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

ebenso wie die großen Schnecken in ungeheuren, posthornartigen Häusern, und die Krabben und die auf der Straße gerösteten heißen Kastanien. – So sieht’s aus der Reihe nach, man mag von jeder beliebigen Seite her kommen. Noch eine Strecke und wir gelangen endlich nach der Mitte der Stadt, nach der Bank.

Wir brauchen jetzt nur noch eine Fahrt mit der Eisenbahn zu machen, um unsere allgemeinen Ansichten von London zu vervollständigen. Die Stadteisenbahnen durcheilen größere Kreise der ungeheuren Stadt. In dem Waggon wird es uns erst klar werden, daß London keine Stadt ist, sondern etwas ganz neues „höheres Dritte“ zwischen Stadt und Land, die „höhere Einheit“ des alten, blutigen Gegensatzes zwischen ländlichen und städtischen Interessen und Bildungsstufen. Dieser Umstand ist besonders wichtig und wir werden Gelegenheit nehmen, ihn besonders zu schildern. Er bildet zugleich einen der höchsten Reize Londons, durch welchen es erklärlich wird, daß Niemand, der London erst kennt, es wieder verlassen will, vorausgesetzt, daß ihm das nöthige Geld nicht fehlt, diesen Reiz auch zu genießen.

Von der Bank ist es nicht eben weit nach einem der Stadteisenbahnhöfe. Wir gehen zu Fuß, so weit uns das durch ein ewiges Gedränge von hunderterlei Arten von Wagen, Körben und Packeten auf den Köpfen von Weibern und Männern, blauen Säcken auf den Rücken anständig gekleideter Schnellläufer (wir lernen sie alle noch kennen) und Reihen von Tabuletkrämern in den engen Straßen möglich ist. Wie es möglich ist, begreift man erst eine ganze Zeitlang gar nicht. Hernach lernt man es finden, den Verkehr, die Communication, das Rennen, Fahren, Laufen, Drehen, Drängen und Winden, das Sichüberalldurchhelfen ist hier zu dem höchsten Grade der Vollkommenheit und Freiheit ausgebildet. „Sehe Jeder, wie er’s treibe, und wer steht, daß er nicht falle.“ Das wurde hier zur blühendsten Wahrheit, und so fällt wirklich Keiner und Jeder weiß sich und sein Geschäft zu treiben, daß man Beide für Geld könnte sehen lassen.

Wir sind auf einem Eisenbahnhofe. Wenn geht der nächste Zug ab? Das ist eine Frage, die der Bockney (der in der City geborne) im besten Bockney-Englisch nicht verstehen wird. Der Zug geht immer ab, und der Zug kommt immer an. Beides ist Eins. Draußen ein Paar hundert Schritte vor dem Halteschuppen läuft fortwährend eine Locomotive von dem Zuge weg auf andern Schienen hin und läßt den Zug mit den Hunderten von Personen sich selbst sein Ziel suchen. Während dieser sich noch bemüht, von selbst still zu stehen, geht drüben ein anderer Zug ab, und während die Leute hier zugleich aus- und einsteigen, werden plötzlich alle Thüren zugeworfen, eine Stimme ruft: „all right“ und sofort ras’t der eben angekommene Zug hinter dem eben abgegangenen her, nicht erst ein Weilchen langsam, sondern gleich im vollen Laufe. Und kaum hat er angefangen, wie besessen zu laufen, so steht er plötzlich still, wie Einer, der in der Eile zu Hause was vergessen hat und sich plötzlich darauf besinnt, daß er’s haben muß. Aber der Zug besinnt sich nicht, in derselben Minute sind vielleicht Hunderte neuer Passagiere eingestiegen und in derselben Minute hohe Burgen von Kasten, Kisten und Koffern in den Zug verschwunden, in derselben Minute Hunderte alter Passagiere hinausgesprungen und in derselben Minute läuft der ganze Zug auch gleich wieder in rasender Hast, aber ganz kaltblütig ohne Pfeifen und Klingeln davon. Nach drei – fünf Minuten ganz dieselbe Geschichte und wieder ganz dieselbe Geschichte 20 – 30 – 40 mal hinter einander, je nachdem unser Weg länger oder kürzer ist. Diese Eisenbahnzüge, die immerwährend so den ganzen Tag abgehen und ankommen, sind Dampf-Omnibusse, die scheinbar alle Nasen lang anhalten (aber jede Nase ist freilich eine gute Meile lang) und immerwährend Hunderte von Leuten und Packeten einnehmen und absetzen.

Im Anfange fuhren wir auf einer ungeheuren Brücke über Häuser und Straßen weg. Nimmt denn das gar kein Ende? Allerdings, aber erst da, wo die Eisenbahn zu Ende ist. Die ganze Bahn von Anfang bis zu Ende ist eine einzige Brücke über Häuser und Straßen hinweg. Sie ist beiläufig gesagt, blos 4 Meilen lang, denn wir nehmen an, daß wir gerade auf die kürzeste und theuerste gerathen sind, welche die City mit einem östlichen Punkte, Blackwell, verbindet. Sie ist die theuerste Bahn der Erde und ihre Actien stehen höher als die irgend einer Bahn dieses Planeten, so etwa 4 – 500 %. Von dem, was rechts und links, unter und über uns vorbeisaus’t, bekommen wir kaum eine Ahnung. Nur die ungeheuren Wälder von Masten, die uns manchmal nahe kommen, ragen deutlich genug herein, uns in Erstaunen zu setzen. Wir fliegen an allen den riesigen Weltwundern vorbei, in denen die Schiffe aller Nationen theils ausruhen, theils laden und löschen. Man schmelze alle Wunder der Welt und aller Zeiten und Nationen zusammen zu Einem Wunder und sie bleiben gegen diese „Docks“ ein Pfefferkuchenmann, 12 für einen Silbergroschen. Man addire den Bremer Rathskeller 100 mal mit sich selbst und multiplicire ihn 10,000 mal mit dem Heidelberger Fasse, das Facit bleibt immer nur ein kleiner Bruch zu einem einzigen dieser Weinkeller, über die wir mit wegfahren. Wir besuchen später einen und probiren auch, ohne daß es uns was kosten soll. Diese unterirdischen Weinstädte mit ihren unterirdischen Eisenbahnen, auf denen von den 56,000 Oxhoft-Einwohnern stets welche ankommen oder abreisen in die Kehlen Amerika’s, Ostindiens, Australiens u. s. w., wenn sie es nicht vorziehen, im Lande zu bleiben und die Engländer redlich zu nähren, diese Weinkeller müssen einen braven Bürger bei Kasse, der nicht nur ein gutes Glas liebt, sondern es auch mit Kennermiene gegen das Licht zu halten weiß, ehe er trinkt, um den Verstand bringen, ehe er nur einen Tropfen trinkt, so viel Staunen ist hier aufgehäuft. Auch wir werden uns sehr tapfer halten müssen, nicht nur im Nichttrinken, sondern auch im Nichtzuvielluftschöpfen. Doch das Alles nur bei- und vorläufig, anklangsweise, wie in der Ouverture zu einer Oper. In Blackwell gehen wir auch nur ganz schnell in die Ostindien-Docks herunter, durch einen der Ostindienfahrer hindurch. So ein Schiff ist keine kleine Stadt, wie man wohl gesagt hat, sondern schon eine ziemlich große. Habe ich doch eins mit 1200 Zimmern (300 Wohnungen) gesehen, abgesehen von den Räumen für Frachten und Proviant.

Nur ein Paar Schritte weiter und wir steigen in einen andern Dampf-Omnibus, der etwa 10 Meilen weit durch die Ost- und Westseite der Vorstädte Londons immerwährend hin- und herläuft, aber eigentlich in der City anfängt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_106.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)