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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

als es überhaupt möglich ist, in einer Sache, die so sehr in das Gebiet des Wunderbaren hinüberspielt, eine Ansicht zu gewinnen, die auf allgemeine Geltung Anspruch machen kann.

Vor etwa zwei Jahren wurde in öffentlichen Blättern Nordamerikas darauf aufmerksam gemacht, daß neuerdings an’s Licht gekommene Thatsachen es als wahrscheinlich herausstellten, daß der Geistliche Eleazer Williams in Green Bay in Wisconsin Niemand anders sei als der todtgeglaubte Ludwig XVII. Diese Notiz erweckte ein allgemeines Interesse und veranlaßte den Geistlichen Hanson, die sorgfältigsten Nachforschungen anzustellen, um die Wahrheit jener Angabe zu ergründen. Er machte zu diesem Zwecke mehrere Reisen, auch nach dem nördlichen Theile des Staates New-York, und als er von hier im Herbste 1851 nach New-York zurückkehrte, brachte ihn der Zufall auf der Eisenbahn mit demselben Manne zusammen, den er seit einigen Jahren vergebens gesucht hatte. Er traf in einem Waggon den Geistlichen und Indianer-Missionär Williams in lebhaftem Gespräch mit zwei Indianern und war von der Aehnlichkeit desselben mit dem bekannten Familiengesichte der Bourbonen so überrascht, daß er sich Williams sofort als Amtsbruder vorstellte, mit ihm später auf einem Dampfboote die Reise den Champlain-See hinunter fortsetzte und in der mit ihm beginnenden Unterhaltung gleich auf die Sache selbst einging. Zu seinem größten Erstaunen erfuhr Hanson, daß Williams selbst die Geschichte seines königlichen Ursprungs nicht für unglaublich halte, obgleich er auf dessen Frage, ob ihm, der doch bei dem Tode seiner Mutter bereits acht Jahre alt gewesen, gar keine Erinnerung von dem geblieben sei, was in Paris und vor seiner Reise nach Amerika vorgegangen, entgegnete: „Darin eben liegt das Geheimniß meines Lebens. Ich weiß Nichts von meiner Jugend. Alles, was vor meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre liegt, ist verwischt, gänzlich ausgelöscht aus meinem Gedächtniß, unwiederbringlich verloren. Denken Sie sich ein Kind, das, so viel es davon versteht, stumpfsinnig, seines Erachtens bis zu jenem Augenblicke sogar ohne Bewußtsein war. Es badete mit einer Schaar Indianerknaben im Georgs-See. Mit der Furchtlosigkeit des Stumpfsinnes kletterte es auf eine Felsenspitze. Es stürzte kopfüber in das Wasser. Es wird für todt herausgezogen, in eine Indianerhütte gebracht und in’s Leben zurückgerufen. Da war der blaue Himmel, da lag der glänzende See – das ist das Erste, was ich von meinem Leben weiß.“

Dieser Sturz in den Georgs-See ist eine wichtige Begebenheit in dem Leben Williams’, denn von jener Zeit an schien sein Geist seine Spannung und Gesundheit wieder erlangt zu haben, und es lebten manche Bilder und Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihm wieder auf, ohne daß er ihnen jedoch Namen und Platz anweisen konnte. Als höchst bedeutungsvoll in dieser Beziehung erscheint folgender Vorfall. Ein eben aus Europa zurückgekehrter vornehmer Mann unterhielt sich mit Williams und legte während des Gesprächs mehrere Lithographien und Kupferstiche auf den Tisch; kaum hatte Williams eins dieser Bilder erblickt, so rief er, ohne dessen Unterschrift gesehen zu haben: „Großer Gott! das Gesicht kenne ich; es hat mich durch mein ganzes Leben verfolgt.“ Und dies Bild stellte niemand anders dar, als den Schuhflicker Simon, den Kerkermeister des Dauphin.

Wie ist nun aber der Indianer-Missionär Eleazer Williams dazu gekommen, in sich nach und nach die Ueberzeugung zu befestigen, daß er der Sohn Ludwig’s XVI. sei? Er ist in einer Indianerfamilie erzogen; sein angeblicher Vater Thomas Williams galt in Folge der Abstammung von seinem Großvater mütterlicher Seits als ein Indianer vom Irokesenstamme, der sich mit einer Vollblut-Indianerin verheirathete. Mit dieser erzeugte er, außer Eleazer, noch eilf Kinder, die alle die Abstammung ihres Blutes an sich tragen, nur Eleazer nicht, der weder seinen angeblichen Geschwistern, noch diese ihm glichen. Thomas Williams wie seine Frau waren katholische Christen und alle ihre Kinder sind nach empfangener Taufe in das Kirchenregister eingetragen, nur Eleazer’s Name fehlt. Auch wurde derselbe in die Schule nach Long Meadows, im Staate Massachusets, geschickt und dort der Sorgfalt des Geistlichen Ely anvertraut. Aus den Büchern dieses Geistlichen geht hervor, daß für Eleazer Williams halbjährlich mit großer Pünktlichkeit das Schulgeld bezahlt worden ist, und daß sein angeblicher Vater Thomas Williams diese Gelder nicht hergab, steht außer Zweifel, da ihm hierzu die Mittel fehlten, auch seine andern Kinder nicht eine gleiche Erziehung genossen. Endlich haben sowohl Thomas Williams wie seine noch lebende Frau, also die angebliche Mutter Eleazer’s, eine hochbetagte Frau, zu verschiedenen Malen erklärt, daß Eleazer nur ihr Pflegekind sei; doch waren selbst Eleazer’s Bemühungen bis jetzt vergebens, seine Mutter dahin zu bringen, daß sie bestimmt erkläre, wer ihn (Eleazer) ihr zur Pflege übergeben. Einiges Licht ist allerdings in dieses Geheimniß gedrungen und zwar durch die Aussage eines Sterbenden. Es war dies ein Franzose, Namens Belanger, der im Jahre 1848 in New-Orleans starb und auf seinem Todtenbette das Bekenntniß ablegte, daß er derjenige sei, der den Dauphin nach Amerika geschafft und ihn unter die Indianer im nördlichen Theile des Staates New-York gebracht habe. Nun ist aber geschichtlich erwiesen, daß am 31. Mai 1795 ein gewisser „Bellanger“, ein Maler, den Dienst im Gefängnisse des Dauphin hatte, länger mit ihm sprach und eine Zeichnung des Prinzen machte. Sollte sich dieser nicht, unter Vorwissen des Convents, heimlich mit dem Prinzen entfernt haben? Eben so wahr ist es, daß im Jahre 1818 der damalige französische Geschäftsträger Genet, der sich in einer Gesellschaft im Hause des Dr. Hosack in New-York befand, in welcher auch zugleich mehrere angesehene Männer, und unter diesen der Graf Jean d’Angeley, zugegen waren, bestimmt erklärte: „Meine Herren, der Dauphin von Frankreich ist nicht todt, sondern nach Amerika geschafft worden.“ Ueber diesen interessanten Gegenstand wurde noch weiter gesprochen, wobei Genet unter Anderem gegen die Gesellschaft äußerte, er glaube, der Dauphin befinde sich im westlichen Theile von New-York, und Le Ray de Chaumont wisse Alles, was ihn betreffe, am Besten. Dieser Le Ray de Chaumont war 1794, 95 oder 96 nach Amerika gekommen, hatte sich dort angekauft und immer nicht weit von dem Orte gelebt, wo Williams erzogen wurde. Erst nach der Julirevolution im Jahre 1832 kehrte er nach Frankreich zurück. Er, wie noch ein anderer Franzose, der Oberst De Fervier von der Leibgarde Ludwig’s XVI., welcher, mit einer Indianerin verheirathet, unter den Indianern in Oneida lebte, wo auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_160.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)