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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

zu ihrer Sanction. Die gewöhnlichen Verbrechen von Diebstahl und Betrug scheinen hier gar nicht gewöhnlich zu sein. Die Taschendiebe haben zu viel Rechtsgefühl und so viel Instinkt, daß sie da keine Taschentücher entführen, wo die Baumwolle über Seide herrscht, und da nicht des Nächsten Börse begehren, wo die Majorität der Pence über die Guineen ihr constitutionelles Übergewicht behaupten.

New-Cut wird zunächst Sonnabends gegen 4 Uhr nach und nach von 7–800 Hökern und Hökerinnen ganz willkürlich verbarrikadiert. Einige tragen ihr ganzes Warenlager vor dem Bauche und drängen sich schreiend und empfehlend durch die dichtesten Haufen, ohne daß ihre Aepfel, Apfelsinen, Fische, Kastanien u. s. w. Schaden nehmen. Aeltliche, verräucherte Hökerinnen rauchen dabei auch aus einem sehr kurzen Thonstummel furchtbar starken Taback. Die so fliegenden Waarenlager haben selten einen höhern Totalwerth als 2 bis 5 Schillinge. Die, welche feste Sitze aufschlagen auf Körben, Karren, Handwagen und resp. auf dem blanken platten Steinpflaster, sind schon aristokratischer und haben nicht selten für 5 bis 10 Pfund eingekauft, um in 24 Stunden 8 bis 20 Pfund dafür wieder einzunehmen und dafür bis zum nächsten Sonnabend sehr comfortabel zu essen und zu trinken. Diese wandernden und fixirten Verkäufer und Verkäuferinnen scheinen sich nach einem geheimen Natur- und Instinctsgesetze so in das Angebot aller möglichen Bedürfnisse und Wünsche getheilt zu haben, daß von Allem etwa grade so viel Vorrath da ist, als bis zum Sonntag Vormittag mit Vortheil abgesetzt werden kann. Das Ueberflüssige geht am Besten, weil es in Restern spottbillig verkauft wird, daß der letzte Penny nicht widerstehen kann.

Wenn schon eine Parlaments-Verhandlung über mangelnde Gelegenheit für die untern Klassen, ihr Geld anzulegen, bewies, daß die untern, arbeitenden Klassen nicht arm sind, so beweist es doch recht lebendig erst ein solcher Nachtmarkt in den Arbeiter-Vierteln. Freilich wollen wir damit die untern Klassen überhaupt nicht glücklich preisen. In der Gegend des Towers giebt es einen Nachtmarkt, der die scheußlichsten Phantasienachtstücke in der Wirklichkeit bei Weitem übertrifft. Dort liegen zerrissene Lumpen zum Verkauf aus, mit denen sich ein Mensch für 2 Schillinge vom Kopfe bis zum Fuße vollständig neu kleiden kann, Umschlagetücher für 3, Herrenoberröcke für 6 bis 10 Pence, Beinkleider für 5 bis 6 Pence, lauter Herrlichkeiten, nach denen halbnackte Jammergestalten mit gierigen Blicken starren, wie Tantalus nach den Trauben, die ihm in den Mund hängen, ohne daß eine Beere seinem lechzenden Gaumen labe.

Aber die Arbeiter-Nachtmärkte sind goldenes Leben, fetter, übermüthiger Genuß. Die Skala der ausgebotenen Waaren und das Verhältniß der Schnelligkeit ihres Verschwindens in die Körbe und Taschen der Consumenten ist ein interessanter Barometer des Wohlstandes. Außer den nothwendigen Eß- und Trinkwaaren und Bekleidungsgegenständen spielen Kuchen und Früchte, Pies (Pasteten), warme Aale, in großen Blechöfen schmorende Kartoffeln, gekochte „Eisbeine“ (Schweinsknöchel), gebratene Kastanien, Würste, Kaninchen und Geflügel, allerlei Bänder und Schnuren und Putzsachen, Papier, Bleistifte, Bilderbücher, Kalender, Zeitungen, natürliche und todte Blumen, Juwelen und Schmucksachen aller Art, Kämme und Haarbürsten, prächtige Küchengeräthe, Topf-, Glas-, und Krystall-Waaren, fabelhafte Bedürfnisse für Matrosen, Guckkasten, Polichinell-Theater, ein Paar Dutzend Sorten von Leierkasten, schottische Dudelsäcke und unzählige andere Bedürfnisse des Luxus eine Hauptrolle. Schweineköpfe, Juwelen, (natürlich künstliche) und Galanteriewaaren aller Art verhalten sich aber nach einer vor mir liegenden Verhältniß-Statistik wie 50 zu 9 bis 20 zu den nothwendigen Bedürfnissen. Obenan stehen Eßwaaren, dann kommen die Juwelen für Kleidung, Haus- und Küchenschmuck, welche mit Büchern, Papier, Zeitungen und Schreibmaterialien etwa im gleichen Mengenverhältnisse stehen. Man sieht schon, daß dies keine Märkte für eine Klasse sind, die noch um das Nothwendigste zu kämpfen haben, daß die arbeitenden Klassen bereits mitten in den Strom der Cultur und der Lebensbefriedigung civilisirter Art hineingerieten.

Diese Nachtmärkte sind in jeder Beziehung ganz freie Entfaltungen des praktischen Volkslebens. Die Verkäufer hängen von keinerlei Concession und Controle ab. Von einer polizeilichen Ordnung in Bezug auf Stand, Stellung, Ort, Größe, Klassen- und Gewerbe-Unterschied keine Spur, Alles eitle Selbstregierung, oder auf Deutsch: Anarchie.

Die Höker beiderlei Geschlechts von 5 bis 60 – 70 Jahren kommen in der Regel von 4 Uhr Nachmittags auf dem großen Concurrenz-Kampfplatze an, um sich womöglich eine recht comfortable Stelle „a pitsch“ auszusuchen. Ist dieses unbeschränkte Wahlrecht ausgeübt, übergiebt man den Waarenvorrath einem schmutzigen Jungen oder einem Hunde unter dem Karren zur Wahrung der Eigenthumsrechte. Die Regentschaft dieser Aufseher dauert bis 6 Uhr, dem officiellen Anfang des Markts.

Um sich nun ein Bild zu machen, muß man mit den beiden Reihen Statisten, den Häusern von New-Cut, anfangen. New-Cut ist das Gegenstück zu Regent-Street, der Straße aristokratischer Luxus-Industrie und der „Street-walkers“ erster Klasse beiderlei Geschlechts. New-Cut ist von Mobilien und Immobilien-Händlern und En Gros- und Detail-Händlern, Heymann-Levi’s im vergrößerten Maßstabe, Alehändlern, Fleischern, Bäckern und Bierwirthen bewohnt. An der einen Ecke steht ein großes Theater, Großmogul der Penny-Komödienhäuser. Aus allen diesen Häusern strahlen Meere von Lichtern und die großen, offenen Hallen der Fleischer-Stockwerke hinauf mit ganzen Schweinen, Hammeln und Kälbern ausdecorirt, flackern in hundert bengalischen Flammen. Ellenlang lodern die freien Gasflammen um die fetten Fleischmassen wie feurige Zungen herum. Zu den Hunderten und Tausenden von Gaslichtern aus den Häusern kommen Hunderte und Tausende von Beleuchtungsarten auf der Straße. Jeder Karren, jede Bude, jedes Geschäftchen strahlt in solorischer, eigener Beleuchtung. Von der stolzen, „sich selbst erzeugenden Gaslampe“ bis zu dem düstern Qualm aus einer Stube oder einer schmierigen Hornlaterne ist jede Sorte von Beleuchtung aller Zeiten und Zonen vertreten. Jede Sorte von Licht- und Farbeneffect ist da, gewaltiger und reicher, als alle Lichteffecte aller Kunstausstellungen zusammen genommen, vielmehr aber solche, die nie und nirgends zu malen oder irgendwo zu sehen sind.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_281.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)