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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Diese sichtbare Geisterwelt von Lichtern und Schatten und Farben hat in der Welt nicht seines Gleichen. Ueberall würde die Menge und Masse und die schinkenfarbig glühende Nebelluft dazu fehlen. Schon allein die kleinen feurigen Drachen der Straßen-Dampfmaschinen, die Kastanien, Wurst und Kartoffeln, Braten und rothglühenden Kometenschweife aus dem Ofenloche zu senden scheinen, sind nur auf einem Londoner Nachtmarkte möglich.

Nun denke man sich das hunderttausendfach wimmelnde und schreiend wirkliche, übervolle, dichtgedrängte Leben in diese farbigen Licht- und Farbengeister hinein. Es haben sich inzwischen außer den beiden Hauptcolonnen der Buden und Stände eine Menge kleiner Neben- und Seitengäßchen gebildet. Wie frei fließendes Wasser sich bald eine Bahn und ein Bett ausspült, so sind auch hier durch die Ströme des freien Verkehrs die anarchischen Marktstände bald in Reihen und Bahnen abgeschliffen. Hier wird Einer zurück-, der Andere vorgedrängt, ohne daß man Opposition macht, da man mit Luther einsieht, daß wahre Freiheit und Nothwendigkeit identisch seien. So ist in diesem vieltausendfältigen Tumult und Geschrei doch wohl Ordnung und Gesetz, wie könnte es sonst alle Sonnabende an unzähligen Orten sich eben so großartig, so lichter-, farben- und formenreich wiederholen und Allen Vortheil bringen? Es ist die in der Sache selbst liegende Ordnung, das „immanente“ Gesetz des freien Verkehrs.

Etwa von 8 bis 11 Uhr sind Geschrei und Tumult wahrhaft erhaben, wie ein Sturm auf dem Meere, erhaben im Contraste einer Wüste, über deren tausend Meilen Sand die Stimme des Löwen brüllt, erhaben und lächerlich in einer „höheren Einheit.“ Tausende von Stimmen schreien immer zu gleicher Zeit ihre Waaren aus. Des Einen Text ist länger, als der des Andern. Die Schlüssel zu deren Vocalmusik übertreffen die der Musiklehre um 100 Procent. Sopran, Tenor, Alt, Baß reichen schlechterdings nicht aus, um diese Töne und Melodien wissenschaftlich zu unterscheiden. Mozart’s Königin der Nacht bleibt mit ihrer berühmten höchsten Note noch im Sopran, und auch „in diesen heiligen Hallen“ bleibt die Baßgeige noch in ihrer Tiefe unübertroffen. Aber hier giebt’s Ultra-Soprane, Ultramontane der Tiefe, wie Barclay’sche Porter-Tonnen und unendlich viel in Musik gesetzte Heiserkeit. Daß die meisten Ausrufe dem continentalen Ohre wie laut gewordene Hieroglyphen klingen, daß Krähen, Gänse, Hühner u. s. w. ein verständlicheres Englisch zu sprechen scheinen, als diese Marktschreier, erhöht das Interesse und macht den aufregenden Eindruck des Mystischen. Mit Buchstaben auf’s Papier gebracht, sieht es ganz verständlich aus, aber in dem Munde des lebendigen Nachtmarktes ist Alles Böhmisch, Chinesisch und alles Andere, nur kein articulirtes Englisch.

Wir sind mitten im Babel. Und zu diesen musikalischen Fugen die Augenweide, wenn man sich durch die zehnfachen Ströme und Wagen der Körbe und Frauen und Arbeiter und Kinder hindurch ellbogen kann! Hier glitzert eine kleine Welt von blau gemalten Tellern, Saucieren, geschliffenen Gläsern und Flaschen und Gasglaskugeln, dort in Gelb und Blau allerhand Töpferwaaren, wovon einige Reihen alter und neuer Schuhe und Stiefeln, die auf dem Pflaster ausgebreitet stehen, sich noch etwas Abglanz borgen. Von den Stiefeln kommst du gleich in eine Kunstausstellung prächtiger Theebretter mit profanen und biblischen Geschichten bemalt, dann wieder in ein Labyrinth von Tellern und Tassen, auf denen Moses und die Propheten und Joseph’s Träume und das ganze alte Testament blau angelaufen erscheinen. Selbst Madame Potiphar’s Nase sieht eben so blau aus, wie Joseph’s Mantel. Jetzt kommt ein Wald rother Taschentücher, echt ostindisch-seidene, von 1 Schilling an, neben welchen blaustreifige Hemden im Winde flattern, darunter eine Art Ladentisch, hinter welchem muntre Jungen unaufhörlich nach Kunden schreien. Dort vor dem Thee-Laden, der in unzähligen Gasglaskugeln glänzt, theilt ein Mann gedruckte Empfehlungen aus, dankt dem Publikum für die bisherigen Gunstbezeigungen und fordert kühn alle Concurrenz heraus. An den Straßenwänden entlang vor einem Kleiderladen stehen ein halb Dutzend menschenähnliche Holzklötze mit fabelhaft dummen Taillen und bauschigen „Chesterfields“ und Jacken, jeder mit einem großen Zettel auf dem Rücken: „Look at the prices!“ und „observe the quality!“ Das immerwährende bengalische Feuer drüben, in welchem weißschürtzige, starke Helden, unverbrennlich wie Salamander, einhergehen und immerwährend schreien: „Buy! buy! buy!“ illuminirt einige Tausend Pfund Fleisch, das in malerischen, fetten, roth- und weißstreifigen Stücken bis in die Belle-Etage hinaufhängt. Jetzt hält dir der fliegende Buchhändler ein Buch Papier für zwei Pence unter die Nase, von der einen Seite wirst du scharf mit Messern angefallen, Rasir-, Feder- und Taschen- und Tischmessern, während dich kleine Mädchen mit zwei oder drei Apfelsinen für 1 Penny verfolgen, bis sie von einer Menschenwoge weggerissen werden. Kaum bist du aus dieser Scylla, so fällst du in die Charybdis der Bleistifte, Stahlfederhalter, Streichhölzchen und Zündschwämme. Und was ist das für eine Gruppe an der Wand? Ein Vater, eine Mutter mit einem Kinde an der Brust und eins sich frierend in die Schürze wickelnd. Der Vater steht mit verschämt gesenktem Blick, die Hände gefaltet und dazwischen – ein Crucifix? nein, ein Kästchen Schwefelhölzer für’n halben Penny! Sie wollen nicht betteln, sie wollen noch von einem „Geschäft“ leben. Hier kaufte ich, und gab einen ganzen Penny, ohne den halben, den ich herausbekam, anzunehmen. Der Mann sah kläglich auf, hielt ihn mir wieder hin und schlug die Augen wieder nieder, als er seine ausgestreckte Hand mit dem halben Penny wieder fallen ließ. O was für eine lange Geschichte voller Ehrlichkeit und Noth lag in dieser stummen Bewegung, die Niemand bemerkte, die Niemand verstand, die im gewaltigsten Strome des Verkehrs verrann, wie Tausende, Tausende anderer in jeder Nacht. –

Dort glänzen noch große offene Hallen mit Grünkram, Rüben, Kohl, Kohlen, Kartoffeln und großen Stößen kleiner Holzbündelchen, mit denen das Steinkohlenfeuer im Kamin angemacht wird, an welchem hängend morgen das 5–10pfündige Stück Fleisch im eigenen Fette gebraten wird, damit es eine Woche lang Stoff zum Abschneiden biete.

Jetzt Platz, es windet sich ein Wagen durch das dicke Gedränge, ein Annonce-Wagen, an allen 4 Seiten mit großen Zetteln, die wunderbare Dinge verkündigen, beklebt. Oder du stößt auf einen Mann, der zwischen zwei großen Zetteln steht und von der Rück- und Vorderseite zugleich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_282.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)