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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Die Näherin.

(Geschichte aus der „guten Gesellschaft“ Englands.)
Von Heinrich Beta.


„Sie haben wohl diesen Brief verloren, mein Herr!“

Diese wenigen Worte wurden mit einer so süßen, klaren Stimme gesprochen und dabei schlug sie ihre Augen so bescheiden und vornehm auf und nieder und sah so kindlich, frisch, reizend, einfach und graziös aus, daß der angeredete Herr ganz gegen englische Manier den Hut zog und ganz gegen englische Manier sich höflich verbeugte und ganz gegen englische Manier mit Herzlichkeit dankte und von der großen Güte sprach, mit der sie den Brief aufgehoben und ihm überreicht hatte. „Meinen herzlichsten, meinen verbindlichsten Dank! Mein – meine – meinen –“

„Gute Nacht, Sir!“ unterbrach sie ihn und entfernte sich mit ihrem leichten, graziösen Schritt und mit einem so kleinen Fuße, wie man ihn gewiß selten unter den Engländerinnen findet.

Der Herr starrte ihr eine zeitlang nach und rief endlich halb philosophisch, halb gefühlvoll aus: „Potz Wetter, was gibt’s doch für Schönheit in der Welt! Ich wollte mein Vater hätte grade diese gewählt! Aber so glücklich bin ich nicht. Ich bin reich, muß also auch eine reiche haben und mich in den Banden „guter Gesellschaft“ von Andern verheirathen lassen wie ein Prinz. Ich besinne mich kaum auf diese Miß Clifford, mit der ich als Kind gespielt haben soll. Nun komme ich nach 15 Jahren, die ich in London, auf dem Continente und in Indien zugebracht habe, zurück, drei- und vierfach verlobt und verbunden mit dieser Miß Clifford. Mein Vater will es, ihre Tante will es, mein Onkel will es, ihr Vater hat’s gewollt und sich auf dem Tantenballe versprechen lassen, daß wir uns verheirathen sollen. Tausend Pfund zur Hochzeit bestimmt, 10,000 Pfund sofortige Mitgift, nach dem Tode der Tante noch 10,000. Und wie viel soll mein Vermögen betragen?“ Er schlug in dem Briefe, wie in einem Lexicon nach: „Zwei Güter, 17,000 Pfund in der Bank, wahrscheinlicher Haupterbe des Onkels – das wird hinreichen, um sich in’s Parlament hineinkaufen zu können, meint mein guter Vater. Aber wenn ich mich nur nicht einmal umsonst unter diesen Baumwollen- und Stammbaum-Lords sehen möchte? Ich habe mehr von der Welt gesehen als Odysseus, der keinen einzigen Engländer hat kennen lernen. Ich kenne sie. In Indien, in Amerika, in England, überall dasselbe zähe, trockene, herzlose Gieren und Geizen nach Geld, um sich in spätern Jahren freiwillig von den Banden der „guten Gesellschaft“ einschnüren zu lassen. Ich werde jedenfalls mein Geld und mein Herz möglichst dazu benutzen, um frei zu bleiben. Gebe Gott, daß Miß Clifford einige Aehnlichkeit mit diesem Mädchen hat, das mir diese väterliche Heirathsepistel so reizend, so bedeutungsvoll wiedergab. Wenn ich nicht sehr irre, war ihr Kleid reine Baumwolle. Miß Clifford trug beim Thee ein grünes Sammetkleid und eine Kette mit Diamantschloß, das ihr der Onkel für 150 Guineen zum Geburtstage geschenkt. So schreibt mir der brave Vater, um mich von vorn herein verliebt zu machen. Sammet und Diamant, nehmt euch vor der Baumwolle in Acht! Doch es gilt. Ich will ihr gleich meine Aufwartung machen und zwar just in diesen Reisekleidern und unrasirt, damit ich möglichst geringe Aehnlichkeit mit jenen ersten Liebhabern zeige, die wie Modekupfer aussehen und immer sehr lächerliche Rollen spielen, da sie von Herzen und Glückseligkeit und süßen Hoffnungen sprechen und dabei an das Geld denken, womit sie sich in die gute Gesellschaft hineinkaufen wollen. Ich will auftreten, wie ein Barbar mit diesen schwarzen Handschuhen und diesem baumwollenen Regenschirm und mit diesem continentalen Schnurrbart und wie ein deutscher Student, und außerdem Gott bitten, daß Miß Clifford inzwischen etwas buckelig geworden sei.“

Mit diesem unlogischen Wunsche schloß unser Herr seine gemurmelte Unterhaltung mit sich selbst und ging festen Schrittes auf das prächtige Haus zu, in welchem Miß Clifford mit ihrer Tante wohnte. Er klingelte. Nach einiger Zeit öffnete ein feister, junger Mensch mit schneeweißen Haaren (gepudert) die Thür und musterte ihn sehr langsam von den schmutzigen Stiefeln an bis allmälig herauf zu dem Schnurrbarte.

„Von welchem Herrn kommen Sie?“ frug der junge Weißkopf schnöde.

„Ich bin selbst der Herr!“

„Sie zogen die Bedientenglocke.“

„Melden Sie mich der Madame Powell. Ist Miß Clifford zu Hause?“

„Ihre Karte, Herr!“

„Ich liebe das Kartenspiel nicht. Doch hier ist etwas Geschriebenes.“ Er gab ihm das Brief-Couvert. Der Diener las: „Edward Custis, Esg.“ und war plötzlich lauter Verbeugung und Unterwürfigkeit. Wie ein Sklave öffnete er ihm die Thür zum Besuchzimmer und sprang die Treppe hinauf.

Tie Empfangsfeierlichkeiten zu beschreiben, wäre sehr langweilig, da eine Menge Fragen und Antworten rasch durch einander fahren und in ihrer Schnelligkeit zehnmal rascher vorübergehen, als vor dem Auge des geübtesten Lesers. Nur so viel, daß Leute unsern Mr. Custis schon am folgenden Tage in den Armen des Barbiers, unter dem Maße des Schneiders und Schuhmachers und in einem Eau de Cologne-Laden gesehen haben wollen. Außerdem steht actenfest, daß sein Vater am zweiten Tage nach seiner Ankunft bei Mrs. Powell schon folgenden Brief bekam:

 „Mein theurer Vater!

Ich benutze den ersten Augenblick, den ich der bezaubernden Emilie Clifford abstehlen konnte, um Ihnen zu schreiben. Sie haben nicht zu viel zu ihrem Lobe gesagt. Sie ist so hinreißend schön, so fein in Benehmen und Manieren, so graziös – kurz, lieber Vater,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_286.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)