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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

allein und horchten mit Wohlgefallen der rauschenden Musik. Custis drängte sich möglichst unbemerkt durch, konnte aber an einer Stelle durchaus nicht vorwärts kommen. Deshalb machte er einen Umweg, um von einer andern Seite ins Haus zu kommen. Bei seiner Annäherung suchten sich rasch zwei weibliche Gestalten zu verbergen; aber Custis entdeckte noch in einem Lichtstrahle aus dem Hause das süße Gesicht und die sylphenartige Gestalt von Alice Brandon.

Einer unwiderstehlichen Wallung nachgebend, folgte er den rasch sich entfernenden Damen und redete sie in einem zitternden, höflichen Tone an.

„Miß Brandon, wenn ich nicht irre?“

Beide Damen blieben einen Augenblick stehen. Alice verbeugte sich mit einem leichten Lächeln, und sagte wie um Entschuldigung bittend: „Mutter und ich gingen etwas aus, um frische Luft zu schöpfen, und da war es uns sehr angenehm, ein Weilchen der prächtigen Musik zuzuhören.“

Dann gingen sie. Custis begleitete sie und wendete sich an die Mutter: „Mrs. Brandon erinnert sich vielleicht meiner noch in dieser kleinen Stadt, wo wir uns alle kennen. Ich lebte als Knabe in dem Hause von Madame Powell.“

„O ich erinnere mich sehr gut. Ich habe sie einige Male an unserm Hause vorbeigehen sehen, nachdem mir Alice erzählt hatte, wer Sie seien.“

„Dann war ich so glücklich, von Ihnen gekannt zu sein, Miß Brandon?“

„Ich sah Ihren Namen auf dem Briefe, den Sie verloren und ich Ihnen aufhob,“ antwortete Alice, ohne aufzusehen.

„Richtig, das ist wahr. Lassen Sie dieses Couvert als eine Empfehlung für mich gelten, da ich leider keine bessere habe, Miß Brandon.“ Er sagte dies mit einer Aufrichtigkeit, Wärme und Offenheit, daß Alice nicht umhin konnte, ihm in’s Gesicht zu sehen und dann mit tiefem süßen Erröthen die Augen tief niederzuschlagen.

Die Mutter unterhielt sich mit ihm, bis sie vor ihrer Wohnung angekommen waren. Er hoffte, die Mutter werde hineingehen und Alice noch Zeit geben, sie zu einem Privatgespräch einladen zu können. Er war fest entschlossen, ihr sogleich sein ganzes Herz zu öffnen. Aber die Mutter ging nicht und schien zu erwarten, daß er sich verabschieden werde. So gestand er dann mit Freimüthigkeit, daß er sich glücklich schätzen würde, wenn sie ihm erlaubte, mit Alice noch etwas spazieren zu gehen.

„Sie sind sehr gütig, Mr. Custis,“ entgegnete die Mutter etwas verlegen. „Alice ist eine bloße Näherin und Sie von hoher Abkunft und ein reicher Erbe, außerdem erzählte man allgemein, daß heute Abend Ihre Verlobung mit Miß Clifford bekannt gemacht werden würde. So würde ein derartiger Spaziergang sowohl Ihnen unangenehm werden können, als auch Alice, die jedenfalls am Meisten leiden würde. Ihr unbefleckter Ruf ist ihr einziges Capital. Ich halte Sie für zu ehrenwerth, als daß Sie diese Bedenklichkeiten einer Mutter übel nehmen könnten.“

„Im Gegenteil, verehrte Mrs. Brandon, ich achte Ihre Sorgfalt für die Tochter. Sie haben vollkommen Recht.“

„Es freut mich, daß Sie es zugeben. Ich würde mich übrigens glücklich schätzen, wenn Sie einen Augenblick mit einträten.“

„Mit Vergnügen, wenn Sie erlauben. Ich fühle mich so müde und zerstört von Musik und Gesellschaft, daß einige klare, wahre Menschentöne mich sehr erquicken werden.“

Bald saßen sie traulich in dem freundlichen Zimmer. Alice, die ihm auf der Straße so bezaubernd schön erschienen war, gab sich hier wie ein Seraph an Milde, Kindlichkeit und Aufrichtigkeit. Sie erzählte von ihren Kämpfen um’s liebe Leben, von ihres Vaters Krankheit und Tod mit einer solchen Offenheit und Wehmuth, daß er plötzlich einmal aufweinte und ihre Hand ergriff, als wollte er sich zum Troste an sie halten. Endlich erinnerte ihn die Mutter an seine socialen Pflichten. Erschrocken stand er auf und ging davon, kehrte aber für einen Augenblick zurück und bat um Erlaubniß, wiederkommen zu dürfen.

Wie ein Träumender trat er in den großen Tanzsaal, der sich schon sehr gelichtet hatte und nur noch mit Personen versehen war, die Abschied nahmen. Emilie stand in der Mitte einer solchen Abschiedsscene, erblickte ihn, durchbrach wild den Kreis, stürmte auf ihn zu und frug erblassend und erröthend, was mit ihm vorgefallen sei. Er sprach von Kopfschmerzen, freier Luft und mit Worten, die er selber nicht verstand. Sie starrte ihn wild an, brach in einen Thränenkrampf zusammen und stürzte aus dem Saale. –

Am folgenden Morgen sollen sich einige alte Jungfern dieser Stadt schon vor Tagesanbruch besucht haben, theils um die Bruchstücke ihrer Nachrichten gegenseitig zu ergänzen und künstlerisch abzurunden, theils mit Verläumdungspfeilen auf Miß Clifford oder Miß Brandon oder auf Beide zuzuspitzen. Letztere hatte mit der Zeit besonders oft ganze Reihen von Spießruthen (von Zungen) durchzulaufen, nachdem sie mit der Mutter nach London gezogen und in einer guten Damenschule als Schülerin untergebracht worden war. Die Schule sei blos ein Schein, hieß es, namentlich da Niemand etwas von Verlobung und Hochzeit hörte ein ganzes Jahr lang; und Mr. Custis lebte doch auch in London. Vielleicht werde er Miß Clifford doch noch heirathen und dabei für sein Schulkind im Stillen fortfahren zu sorgen. –

Nur einmal wird unsere Geschichte noch dramatisch. Miß Clifford, die seit der Zeit das Capitel der Verlobungen und Verbindungen mit besonderer Genauigkeit las, entdeckte eines Morgens folgende Stelle: „Verehelicht vorigen Donnerstag Vormittag in der Christ-Kirche von Sr. Ehrwürden Dr. D. .. Edward Custis, Esq., mit Miß Alice Brandon, Tochter des verstorbenen Dr. Charles Brandon M. D.

Sie kreischte auf und fiel bewußtlos nieder, muß sich aber wohl mit der Zeit wieder erholt haben, da man sie später wieder lebendig und sogar in großer Schönheit öfter im Hydepark zu London spazieren reiten sah. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_299.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2019)