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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Extra-Geschenk gaben. Aber mit dem Notenblatte umhergehen, wie’s gewöhnlich geschieht, das fiel bei uns weg. Wollte Jemand extra ’was auflegen, so wurde er an den Mann der Lene gewiesen; weder ich, noch ihre Schwestern durften Etwas nehmen. So waren wir auch wohl geachtet und hatten überhaupt ein köstlich Leben – so köstlich, daß ich armes Ding mich erst gar nicht drein zu schicken wußte, aber nach und nach fand sich das, und zuletzt konnt’ ich die guten Speisen, den starken Kaffee, die würzige Chokolade und den feinen Thee so gut genießen wie die Andern.“

„Da schmeckt Dir nun gewiß meine „Lutsche“ nicht?“ fiel die Mutter der Erzählerin in die Rede.

„Wie kannst Du nur so denken!“ entgegnete Röschen. „Meinst Du wohl, es hätte mir von allen delikaten Sachen, die ich dort genossen, eine so gut geschmeckt wie Dein „Gekochtes“ oder „Gebackenes?“ Wie oft hätte ich mit Freuden all jene Leckerbissen um ein Stück „Rauche Mahd“ oder „Götzen“ oder einen Röhrenkuchen von Dir hingegeben! Schenk’ nur tapfer ein, Mutterle, unsere „schwarze Hanne“ mundet mir doch besser, als draußen der beste Kaffee. Daheim bleibt daheim, Mutterle, Nichts im fremden Lande hat mir so gut gefallen wie Alles, was daheim ist – doch Eins – ja, das gesteh’ ich – Eins hat mir so gut gefallen wie unsere hohen, waldigen Berge, das war das Meer. O Mutter, wie groß ist Gott, der die Berge schuf und das Meer! Ich kann Dir nicht beschreiben, wie herrlich dieses ist, und ihm verdank’ ich es auch, daß ich so lange draußen ausgehalten. In dem flachen Lande, das zwischen unsern Bergen und der See liegt, wär’ ich am Heimweh gestorben, wenn ich da so lange hätte leben sollen. Der Anblick der majestätischen See erquickte und beruhigte mich, so oft mich ein Bangen nach der Heimath ergriff. – Eines Tages war ich auch an das Gestade gegangen, an mein Lieblingsplätzchen, eine kleine Bucht, die auf der einen Seite von einer Düne und auf der andern von einer Klippe gebildet wurde. Ich war allein, denn am Ufer des Meeres fühlt’ ich mich gerade so sicher wie in unsern Bergen. Es war Fluthzeit und die Wogen reichten bis nahe an meine Füße heran. Ich lauschte ihrem taktgemäßen, plätschernden Schlage, denn es war Windstille, sonst hätte die Brandung mächtig wie der Donner gebraust. Ich dachte an Dich, an Dein stilles Häuschen, an unser Dorf; ich zog das Bild des Vaters heraus und betete bei ihm, daß Gott Dich mir erhalte und mich so gut werden lasse, wie Du bist und wie der Selige gewesen, und daß er Dich an mir möge rechte Freude erleben lassen. Und nach diesem Gebete war ich so glücklich, so froh, daß ich hätte ein Freudenlied anstimmen und, wie sonst zu den Harfen, zu dem Schlage der Wellen singen mögen: „Seid umschlungen, Millionen!“ Als ich mich hierauf zum Nachhausegehen wandte, fielen mir die vielen kranken, mißmuthigen, unglücklichen Gesichter ein, denen ich drinnen begegnen würde, und ich dachte: wären doch Alle so froh und glücklich wie ich! Nur wenig Schritte war ich von dem Gestade fort, als ich hinter mir eine männliche Stimme laute, abgerissene, mir aber unverständliche Worte rufen hörte. Ich sah mich um und erblickte auf der Klippe eine Mannesgestalt, jung und schön, aber bleich wie der Tod, mit langen schwarzen Locken. Sein Rock lag am Boden, sonst war er vollständig bekleidet. Seine ausgebreiteten Hände bewegten sich heftig hin und her. Eine fürchterliche Angst befiel mich – unwillkürlich kehrte ich um, trat nahe an die Klippe und vernahm deutlich die Worte: „Leb’ wohl, du schöne, gleisende, feile Welt! Vergifte fort, bis du vom eigenen Gifte zerfressen, zusammenbrichst zum Chaos, aus dem du hervorgegangen! Leb’ wohl, Vater! Leb’ wohl, Mutter! Lebt wohl, Ihr Brüder! O könnt’ ich Euch mir nachziehen, in den reinigenden, erlösenden Tod! Doch Ihr hängt an der Welt und ihren süßen Giften – mein Ekel ficht Euch nicht an – – lebt wohl!“ – Während dieser Worte war ich wie von fremder Macht gezogen nahe an ihn gelangt – es war mir klar, daß er sich ertränken wollte – ich wußte nicht, was ich that, noch was ich thun sollte – es galt ein Menschenleben nicht nur vom zeitlichen, sondern auch vom ewigen Tode zu retten – im Augenblicke, da er sich hinabstürzen wollte in die tiefe See, umschlang ich ihn von hinten, und da ich nicht wußte, was ich sonst zu ihm sagen sollte, betete ich die Worte des 37. Psalm: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn! Erzürne Dich nicht über den, dem sein Muthwille glücklich fortgeht. – Befiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn: Er wird’s wohl machen. Und wird Deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und Dein Recht wie den Mittag.“ Da wandte sich der Fremde nach mir um und sah mich an mit seinen großen, brennenden Augen, daß ich die meinen niederschlagen mußte. Ich machte mich von ihm los und wollte zurückweichen, aber er faßte mich fest bei der Hand und sagte: „Sprich weiter, Du – “ und er gab mir einen Namen, den ich Dir nicht sagen kann! Ich konnte aber kaum mehr sprechen, nur die Worte vermocht’ ich hervorzubringen: „Thun Sie doch Ihrer Mutter das Herzeleid nicht an!“ Da ruhte sein Blick lange auf mir, aber nicht mehr so wild wie erst, und er wurde sichtbar weicher, so daß ich mir ein Herz faßte, ihn anzublicken. Aber lange sprach keins von uns ein Sterbenswörtlein. Endlich sagte er: „Der Himmel ruft mich durch Dich zurück in die Welt, wird er mich aber auch durch Dich in ihr führen?“ – Er wird Sie führen, wenn Sie ihm vertrauen, – sagte ich; – „Weg’ hat er allerwegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht,“ wie’s in dem schönen Liede heißt. – „O sagen Sie mir das Lied!“ bat er und zog seinen Rock an. Wie gut war es, daß ich es auswendig wußte! Ich „betete“ das Lied her, und muß es wohl nicht ganz ungeschickt gethan haben, denn als ich schloß, weinte er wie ein Kind. Nach einer Weile verließen wir die Stelle – wie froh war ich, als wir das Meer eine Strecke weit hinter uns hatten! Wir gingen langsam der Stadt zu; eh’ wir sie aber erreichten, nahm er Abschied, bat mich um meinen Namen und fragte, ob er mich wiedersehen dürfe. Ich sagte ihm, wer ich sei und daß, wenn er mich sehen wolle, dies jeden Mittag und Abend in unsern Concerten wohl geschehen könne. Er dankte und ging.

(Schluß folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_396.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2020)