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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Befehl gezwungen, sank ich kraftlos und demüthig in die Knie. „Wie kommen Sie hierher?“ stammelte ich. Er lächelte ernst. „Wie ich hierherkomme? Ich sitze schon seit einer Stunde hier oben. Ich steige oft herauf, die Sonne untergehen zu sehen. Es ist so meine Art. Aber Sie, Madame, warum wollten Sie freventlich Ihr junges Leben enden? Läugnen Sie nicht! Die Wildheit und Verstörung Ihres Gesichts bezeugen es.“ Ich zitterte vor seinem mächtigen Blicke, wie vor dem Auge des Richters und erwiederte, den Kopf tief senkend: „Ich wollte ein unglückliches, schuldvolles Leben zum Opfer bringen.“

„Also die eine, jedenfalls kleinere Schuld mit einer größern sühnen? Mit einer Schuld, die man nicht mehr bereuen kann, da der Tod ihr unmittelbarer Begleiter? Nein Madame, kehren Sie in das Ihnen verhaßte Leben zurück, das ist die beste Buße – in ein Leben voll nützlicher, heilbringender Thätigkeit.“ Er hing mir rasch das Tuch um, bot mir den Arm und geleitete mich vorsichtig aus der fürchterlichen Höhe. Dann gingen wir still – ich in stummem Gehorsam – durch die düstern Straßen bis an meine Wohnung, wo er nach sehr kräftiger Ermahnung von mir schied.

Auf meinem Zimmer angekommen, warf ich mich auf die Knie und versuchte das erste Mal zu beten. Vergebens, mir fehlte Vertrauen und Glaube, mein Gebet war nichts als ein wilder Schmerzensruf. Der Schlaf floh mich und die ganze Nacht dachte ich über die Worte meines Erretters nach: „ein Leben voll nützlicher, heilbringender Thätigkeit.“

Als ich am folgenden Morgen bei Clemence eintrat, fiel mir ihre Blässe und Hinfälligkeit in hohem Grade auf. In einer einzigen Nacht hatte sie sich schrecklich verändert. Sie zog mich zu sich auf’s Sopha. „Leonore,“ sagte sie mit matter Stimme, „mir ist, als müßte ich bald sterben; laß uns sobald als möglich von hier abreisen. Ich habe eine grenzenlose Sehnsucht nach Constantin und der Heimath. Ich möchte beide so gern noch einmal sehen, ehe ich heimgehe.“ „Sprich nicht so, Clemence,“ rief ich und umarmte das arme Weib mit Heftigkeit: „Du sollst und mußt noch lange leben!“ Sie lächelte wehmüthig, schüttelte das Haupt und sprach, indem sie mit ihrer Hand liebkosend durch meine aufgelösten Locken fuhr: „wenn die Blume von einem Wurm zerstört ist, hilft weder Jugend noch Liebe und Pflege.“

Wenige Tage später verließen wir Straßburg und fuhren nach der Heimath. Ich sah meinen Retter und Warner nicht wieder, habe aber später seinen Namen hochgefeiert am deutschen Dichterhimmel glänzen sehen. Sein großer, wunderbarer Genius goß mir in spätern Jahren, wo ich ganz einsam mit mir und meiner Schuld war, oft süßen Trost in meine Seele.

Als wir in B. angelangt waren, wollte ich nach meinem Gute abreisen, denn Falk’s Anblick erweckte so leidenschaftliche schmerzliche Gefühle in mir, daß ich zwischen Liebe und Reue schwankend, mich weit hinwegwünschte. Clemence ließ aber nicht ab, mich zu bitten, ihr die letzten Tage durch meine Gegenwart und Pflege zu erheitern. Ich blieb also, um die zarte Blume, die ich ehedem gehaßt und verfolgt, dahin welken zu sehen. Clemence war tief und innig fromm, obwohl sie wenig von Religion sprach und nur selten zur Kirche ging. Ihr ganzes Leben strömte Liebe und Milde, und so war auch ihr Tod.

In den letzten Wochen bat sie ihren Gatten, er möge sie für jenes Leben vorbereiten und ihr Trost mitgeben auf dem dunkeln Pfade. Constantin, der sich in der letzten Zeit sehr verändert hatte und sichtbar bleicher geworden war, fühlte sich doppelt niedergebeugt durch seine stumme Neigung zu mir und durch das so frühe Hinwelken seiner Gattin, der er vielleicht eben so wie mir, aber mit höherer als irdischen Liebe zugethan war. Mit mir sprach er jetzt weniger und hütete seine Blicke, wie ein Wärter seine Gefangenen. Oft saß ich, von ihm unbemerkt, im Alkoven des Krankenzimmers und lauschte, wie er der kranken Clemence Worte himmlischen Trostes zusprach. In solchen Stunden war sein Antlitz das eines jungen Apostels; sein Auge leuchtete mit ungewöhnlichem Glanze und seine Worte waren von überzeugender Kraft. Die Kranke hörte ihm mit freudiger Ergebung zu und schien sich hinwegzusehnen aus dem Erdenleben, hinauf nach dem Lande der Engel, zu welchen letzteren sie schon hinnieden gehörte.

Auch in meinem Gemüthe ging in solchen Augenblicken eine wunderbare Veränderung vor. Constantin’s siegende Beredtsamkeit, die Macht der Wahrheit, die aus seinen Worten sprach, brachen endlich die starre Eisrinde meines Unglaubens und in heißen Thränen schmolz sie von der Sonne der Religion.

An einem stillen klaren Abende ging Clemence zur Ruhe ein. Einige schwere Stunden hatte sie vorher standhaft überwunden und ihr Sterben selbst war schön wie ein Sonnenuntergang, der das bleiche stille Antlitz verklärte. Sie entschlummerte mit lächelnder Lippe, nachdem sie mit Liebe und Dank von mir und Constantin Abschied genommen hatte.

Auch mir dankte sie! O wie schwarz, wie abschreckend kam mir mein ganzes Dasein vor, wenn ich es mit dem Leben dieses Engels verglich.

Constantin’s Schmerz war nicht leidenschaftlich, aber wahr und tief; der meinige nagend und herbe.

Ich hatte schon vor Clemence’s Tode eine Wohnung in einem benachbarten Hause bezogen, um nicht mehr als nothwendig mit Constantin zusammen zu treffen. Jetzt aber sah ich ihn gar nicht mehr. Wir vermieden uns beiderseitig.

Wie soll es mir gelingen, ein Gemälde meines damaligen Seelenzustandes zu entwerfen? Reue, Schmerz, Erinnerungsqualen, Stolz und die alte unbesiegbare Liebe stritten in meinem Herzen. So schwand ein Tag nach dem andern einsam und freudlos dahin. Und meine Nächte! O wer nicht selbst die Last einer schweren dunklen That auf der Seele trägt, wer nicht empfunden hat, was es heißt – jede Nacht denselben gräßlichen Traum zu träumen, dieselbe bleiche Schattengestalt am Lager stehen zu sehen und sie flüstern zu hören: „Leonore, ich weiß es!“ – der kennt nicht den Fluch, der auf solchen Nächten ruht.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_466.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2020)