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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Die Eine ist eben so wieder zu ihm zurückgekehrt, die zweite wird es. Ich kenne meine Betty. Sie wird ihre Tugend und ihren Edelsinn bewahren. Sie kann gar nicht anders.“

„Hört, Alter, gebt mir Eure Adresse und erlaubt mir, daß ich morgen Eure Tochter aufsuche. Ich muß mich selbst von Eurer Behauptung überzeugen. Aber auch Euer Ehrenwort müßt Ihr mir geben, Eurem Kinde mit keinem Worte, keiner Miene, keinem Blick zu verrathen oder anzudeuten, daß ich ein reicher Mann bin.“

Der Alte reichte die Hand hin: „Ich gebe mein Ehrenwort. Es liegt mir selbst daran, Sie zu überzeugen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Ich heiße John Smid und meine Wohnung ist auf diesem Zettel verzeichnet.“ Damit zog er ein Blatt Papier aus der Tasche und händigte es dem Andern ein.

„Und ich heiße Lewis Stauton und bin der Sohn und Erbe von Andrew Stauton. Hier ist eine Hundertpfundnote mit der Bedingung, daß Sie in diesem Hause bleiben, bis ich Sie morgen abhole. – Knabe! Ein Zimmer mit einem guten Bett für diesen Herrn! – Sie bedürfen der Ruhe, Mr. Smid. Gute Nacht! Morgen sehen Sie mich in einer andern Gestalt. Aber in welcher auch, vergessen Sie Ihr Ehrenwort nicht.“

Der Alte machte eine Geberde des Staunens über den gehörten Namen und des freudigen Schreckens über die Banknote; aber eh’ er sich zu fassen vermochte, war sein neuer Bekannter zur Thür hinaus, und der Aufwärter leuchtete ihm in ein Zimmer vor, in dessen Bette er bald den schnellen Wechsel seines Geschicks vergessen hatte.


In einem armselig ausmöblirten, aber sehr reinen und fast zierlich aufgeputzten Dachstübchen in einem der hohen, schwarzgeräucherten Häuser in einer engen und dunkeln Nebengasse der City saß ein sehr hübsches blondes Mädchen von ohngefähr zwanzig Jahren und nähete feines Weißzeug. Wahrlich ihr ganzer Anzug war nur wenige Schillinge werth, aber er war so rein, so nett und saß ihr so trefflich, als wenn er eben so viele Pfunde gekostet hätte. Ihre hellblonden Locken umrahmten ein Gesichtchen voll süßen Seelenfriedens, in welchem ein paar Augen von reinster Himmelsbläue und von reinster Himmelsunschuld sanft leuchteten. Ueberall in ihr, an ihr, um und neben ihr der Geist der Ordnung, der Züchtigkeit, der Sitte und der Reinheit. Die Züge waren so blaß, so zart und so fein, wie die einer Fürstin. Und doch war das Auge übernächtig und voll Unruhe, und dann und wann löste sich ein banger Seufzer aus dieser jungfräulichen Brust los. Endlich hörte sie Schritte auf der Stiege, und ihr Gesicht verklärte sich schnell; sie horchte; aufsteigende Zweifel schatteten sich in ihren reinen Zügen ab. Es klopfte an der Thür, und sie erbebte. Kaum vermochte sie die Einladung zum Eintreten auszusprechen. Ein junger Mann in einem abgetragenen und ausgebesserten Anzug schritt, sich linkisch und demüthig verbeugend, über die Schwelle. „Um Verzeihung, wohnt hier Mr. John Smid?“

„So ist’s, Herr. Was wünschen Sie von ihm?“

„So sind Sie seine Tochter Miß Betty?“

„Ich bin’s.“

„Zu Ihnen wollt’ ich gerade; denn von Ihrem Vater komme ich her.“

„Um Gotteswillen, wo ist er? Was ist mit ihm geschehen? Es ist ihm ein Unglück begegnet, denn noch niemals ist er Nachts aus dem Hause geblieben.“

„Allerdings ein kleines Unglück –“

„O mein armer, armer Vater! Was werd’ ich hören müssen.“

Der junge Mann betrachtete die sichtbaren Zeichen ihrer Seelenangst in ihren Zügen mit großer Theilnahme und sah sich auch im Zimmer um. „Erschrecken Sie nicht, liebes Kind; mit dem Unglück hat’s nichts auf sich. Ein alter Bekannter hat ihn gestern Abend getroffen und in eine Taberne gezogen. Da haben sich die beiden Herrn fest gezecht. Der Andre hat sich spitzbübischer Weise aus dem Staube gemacht, Ihr Vater aber ist als ehrlicher Mann geblieben und muß nun als Faustpfand sitzen, bis die Schuld bezahlt ist, wenn er nicht in’s Gefängniß wandern will. Sonst ist er frisch und gesund.“

„Mein Vater! Mein lieber Vater darf nicht in das Gefängniß!“ sagte das Mädchen ängstlich. „Können Sie mir angeben, wie viel seine Schuld beträgt?“

„Zwölf Schillinge.“

„Ach, mein Herr, ich habe nur drei Schillinge in meinem Besitz. Aber ich will schnell zu Miß White laufen und sie sehr bitten, daß sie mir neun Schillinge auf meine Arbeit vorstreckt.“

„Wer ist Miß White?“

„Die Putzhändlerin, die mir Arbeit giebt.“

„Wenn Miß White aber Ihre Bitte nicht erfüllt, was dann?“

Das Mädchen brach in Thränen aus. „Ach Gott,“ schluchzte sie, „ich fürchte selbst, sie thut es nicht; denn ich bin ihr schon sechs Schillinge schuldig, und sie ist eine harte Frau.“

„Wofür haben Sie diese Schuld gemacht?“

Sie zögerte erröthend mit der Antwort.

„Sie dürfen sich mir anvertrauen; ich nehme den herzlichsten Antheil an Ihrem Schicksal und wollte nur, ich könnte Ihnen helfen. Aber ich bin selbst ein armer Schreiber. Wozu haben Sie die sechs Schillinge geborgt?“

„Mein Vater ist gar schwach und bedarf der Stärkung. Ich habe ihm zuweilen ein halbes Hühnchen in der Brühe gekauft oder ein Beefsteak.“

„Unter solchen Umständen wird Miß White nichts mehr borgen. Sechs Schillinge will ich Ihnen geben, aber das ist auch Alles, was ich besitze. Haben Sie keinen werthvollen Gegenstand, den wir versetzen könnten?“

„Ich habe nichts, gar nichts als das Gebetbuch meiner verstorbenen Mutter. Sie hat mich sterbend beschworen, mich nie davon zu trennen, und es ist mir nichts heiliger, als ihr Andenken und mein ihr gegebenes Versprechen, aber ich gebe es gern hin für meinen Vater.“ Zitternd holte sie das Buch herbei. „Ach, mein Herr, in mancher stillen Nacht habe ich auf die leeren Blätter hinten im Gebetbuch meine geheimsten Gedanken niedergeschrieben. Es darf Niemand erfahren, daß ich die Schreiberin bin. Wollen Sie mir das versprechen?“

„Gewíß, gute Miß. Sein Sie außer Sorgen. Es soll kein Mißbrauch mit ihrem Heiligthum getrieben werden. Nun machen Sie sich fertig; wir wollen gehen.“

Während sie in die Kammer schlüpfte, schlug Stauton das Buch auf und las die frommen Herzensergüsse des Mädchens. Seine Augen leuchteten und füllten sich mit Thränen der Rührung und Wonne. Sie kam und hatte ein sehr geringes Tuch umgeschlagen, aber als sie auf der Straße so neben ihm hinschritt in ihrer unbewußten Würde, betrachtete er sie mit Blicken der Ehrfurcht und Bewunderung.

Miß White gab den neuen Vorschuß nicht, versicherte aber dem Begleiter des Mädchens, Betty sei ein Engel. Das war ihm aus diesem Munde lieber als das Geld aus dieser Hand. Er versetzte also auf dem Wege das Buch bei einem Trödler, und die zwölf Schillinge kamen zusammen. Betty hatte eine große Freude darüber.

„Wovon wollen Sie aber heute und morgen leben, Miß, wenn Sie all Ihre Baarschaft weggeben?“

„Ich weiß es nicht, aber Gott wird helfen,“ versetzte sie vertrauensvoll. „Ich werde die Nächte hindurch arbeiten.“

„Ja, Gott wird weiter helfen!“ rief er und hätte sich durch seine Bewegung fast verrathen.

Stauton ging erst allein in die Taberne und auf das Zimmer des alten Smid, um ihn mit wenig Worten in seiner Rolle zu instruiren. Dann holte er Betty herbei. Welch ein himmlischer Genuß für ihn, als das süße Kind dem Vater weinend um den Hals faßte, küßte und an ihr Herz drückte. „Ach, mein Vater, mein Vater, welche schreckliche Nacht hab’ ich verlebt, voll Angst und Kummer um Dich! Doch still davon! Gelobt sei Gott, daß ich Dich gesund ’wieder habe.“ Und nun lachte und jubelte sie.

Dann löste sie den theuern Mann ein und führte ihn im Triumphe davon.

Stauton begleitete sie und meinte, er habe noch ein paar Schillinge aufgetrieben; sie solle ein Mittagsessen besorgen. Nun die frohe Geschäftigkeit, das flinke heitre Wesen, die süße Anspruchslosigkeit des herrlichen Kindes! Der junge Mann hätte vor ihr niederfallen und ihr die Füße küssen mögen.

Stauton ging spät Abends und dachte nicht mehr an den Sprung von der Blackfriarsbrücke. Er kam alle Abende „um seinen angeblichen kleinen Verdienst mit der Familie zu verzehren.“

Nach vierzehn Tagen sagte er Abends beim Scheiden: „Miß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_003.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)