Seite:Die Gartenlaube (1854) 015.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

den schimmernden Eigenschaften ihres Geistes und Körpers eingenommen; ich fürchte, Du liebst sie. Entferne sie, mein Sohn! Entferne sie schnell, wo es noch Zeit ist. Höre auf die Warnungsstimme der Frau, die Dich über Alles liebte und die jetzt gleichsam aus dem Grabe zu Dir spricht. Zum letzten Male auf Erden

Deine Mutter.“ 

Eduard küßte die Schriftzüge und schloß den Brief ein. Er fühlte plötzlich klar, was bis jetzt noch nicht der Fall gewesen war, daß die Mutter in Bezug auf seine Neigung zu Helenen Recht gehabt, aber gerade deshalb war er aber auch sogleich entschlossen, ihrer Warnung Folge zu geben. Tagelang war er in stiller Trauer und in tiefem Sinnen, wie er es anfangen sollte, den letzten Willen der theuern Verstorbenen auszuführen. Er wußte es nicht und fand es nicht, und verließ wochenlang sein einsames Zimmer nicht. Endlich überwältigte ihn eine seltsame Angst, und er ging mit dem Briefe zu seinem Vater und trug ihm den Befehl der Mutter vor.

„Helene bleibt im Hause,“ versetzte der Finanzrath kalt und kehrte ihm den Rücken.

Eduard lebte in seiner Weise fort. Er studirte die arabischen und persischen Dichter, die Sanskritschriften und war für die Welt todt. Er sah und hörte in seinem stillen Paradiese nicht, was draußen vorging. Die heilige Wissenschaft hatte die Mauern desselben gefeit. Wie groß war also sein Erstaunen, als er nach einem Spaziergang im jungen Frühlingsgrün eine Karte und ein Billet seines Vaters auf seinem Tische fand, und auf der erstern las: „Geheimer Finanzrath von Bleimüller und Helene von Löbenstein. Verlobte,“ und im Letztern: „Du wirst mich verbinden, wenn Du das Gartenhaus beziehst. Ohnedies sind Gartenhaus und Garten Dein Eigenthum als mütterliches Erbe.“

Am andern Tage zog Eduard aus. Er wollte seinem Vater einen Abschiedsbesuch machen und – wurde abgewiesen. In der Fülle der Reize, welche der Frühling verschwenderisch über den Park ausgegossen hatte, der sein Eigenthum war, und in seinen Büchern, fand er reichlich Entschädigung für den Umgang mit Menschen, die nichts mit ihm gemein hatten. Es wehte ihm wie ein Eishauch von ihnen entgegen. Wohl wußte er jetzt, daß er Helenen geliebt, aber er fühlte auch, daß die verklärte Mutter ihn von dieser aufkeimenden Leidenschaft geheilt hatte. Aus redlichem wohlwollenden Herzen wünschte er dem Brautpaare Glück und ließ die Dinge gehen, die er nicht ändern konnte.




3.

Fünfzehn Jahre sind vergangen. An einem Frühlingsmorgen, wie vor einundzwanzig Jahren zieht der Armenleichenwagen eine Menschenhülle nach der Ruhestätte. Die Todtenfrau, Eduard Bleimüller und ein dreizehnjähriges Mädchen sind wieder die alleinigen Begleiter, ganz so wie damals. Die Frau ist dieselbe; Eduard ist ein ernster Mann, dessen Auge vom Glanze der ewigen Jugend strahlt, welche die Wissenschaft einem edlen Herzen verleiht. Das Mädchen aber ist die Tochter jenes Mädchens, welches einst hinter dem Sarge ihrer Mutter ging. Auch diese geht hinter dem Sarge ihrer Mutter. Die Leiche der Frau von Bleimüller auf dem Armenwagen!

Zehn Jahre hat sie als Gattin des Geheimen Finanzraths und Banquiers in fürstlicher Pracht und Herrlichkeit gelebt. Sie hat es recht darauf angelegt, Fürstinnen in Luxus auszustechen. Sie hat alljährlich in den vorzüglichsten Bädern, sie hat in Paris und London, in Wien und Berlin die vornehmste Welt um sich versammelt und Männer zu ihren Füßen gesehen, die zu befehlen gewohnt waren. Ihren auf sie stolzen und eitlen Gatten hat sie zu allen Thorheiten verleitet; sie hat ihn so vollständig beherrscht, daß er ihr gegenüber keinen eignen Willen mehr hatte. Und er war so schwach, ihr den durch sie herbeigeführten Ruin seines Vermögens nicht eher einzugestehen, bis er ein Bettler war. Nun überhäufte sie ihn mit den bittersten Vorwürfen und Schmähungen. Der alte Mann verschwand spurlos; Niemand erfuhr, wohin er gekommen war. Die reizende Frau versank in ein Leben voll vornehmer Schande. Nach fünf Jahren war sie bis zur tiefsten Gemeinheit herabgesunken und starb elend als Bettlerin. Eins hatte sie stets hartnäckig abgelehnt: Unterstützung von Eduard.

Die Unglückliche hinterließ eine Tochter, über deren Abkunft seltsame Gerüchte gingen. –

„O, mein Herr Bleimüller!“ sagte die Leichenfrau bitter lächelnd, als er, der die nöthigen Begräbnißkosten erlegt hatte, zu ihr trat, um der Verstorbenen das Geleite zu geben und die Hand des Kindes faßte, wie er einst die der Mutter gefaßt hatte, „wer hätte denken sollen, als wir diesen Weg zusammen zum ersten Male gingen, daß es so mit der da kommen würde!“ Und sie deutete mit einer wegwerfenden Bewegung auf den Sarg vor ihnen.

„Das sind die menschlichen Geschicke!“ versetzte der Gelehrte mit seinem ruhigen klaren Lächeln.

„Was soll denn nun aus der Kleinen da werden?“ fragte die Leichenfrau weiter. „Die ist ja eben solch’ ein Bettelkind, wie ihre Mutter war.“

„Sie geht wieder mit mir, wie ihre Mutter mit mir ging; ich erziehe sie, wie ich jene erzog. Ich werde mich nie verheirathen; sie soll meine Tochter und Erbin werden.“

„Sind Sie denn kein gebranntes Kind, Herr Bleimüller?“

„Böse Erfahrungen sollen uns nie abhalten, das Gute zu thun.“

„Und man sagt: das Mädchen sei gar nicht Ihre Schwester.“

„Mag sie’s sein, oder nicht. Sie hat keinen Menschen als mich. Ihre Mutter war mir einst theuer; jetzt soll’s die Tochter sein.“

„Gott segne Sie, edelster Mann!“

Er warf eine Hand voll Erde auf den eingesenkten Sarg, zerdrückte eine Thräne im Auge und ging still selig lächelnd, ein Bild der bescheidenen Tugend, das Mädchen an der Hand führend, in seinen einsamen Musentempel zurück.




Ein Todtenkranz.

Fast jedes Volk hat einen Tag im Jahre, wo es die Gräber seiner geliebten Todten mit Blumen schmückt. Auch wir wollen heute einen Kranz noch auf das Grab eines Mannes werfen, den uns das scheidende Jahr ins dunkle Reich der Schatten entführte, einen Kranz auf ein Grab, dem alle Völker der Erde Kränze werfen sollten, denn Der, den es birgt, gehörte der ganzen Welt, der ganzen Menschheit an!

Er hieß Dominik Franz Arago!

Vielleicht habe ich einen, den Massen kaum oder nur wenig bekannten Namen genannt, und sicher weiß die große Mehrheit nicht, welcher Heiligenschein das Haupt des Dahingeschiedenen umstrahlt. Der große Haufen bewundert eben immer nur die Männer mehr, die unter Schwertergeklirr und Kanonengerassel einherschreiten, die ihm und der Civilisation Wunden schlagen; für die Heiligen der Wissenschaft aber, für die Träger der Civilisation und Cultur muß seinem Gedächtniß nachgeholfen werden. Arago war einer der Führer unter Denen, welche die neue Naturwissenschaft begründen halfen, und gerade dieses Gebiet des Wissens wird dem Volke erst in jüngster Zeit nach und nach zugänglich gemacht; die wissenschaftliche Welt wußte den großen Denker und Forscher schon längst zu ehren, allein sein Denken und Forschen kam aller Welt zu frommen, und indem er die Wissenschaften bereicherte, wußte Keiner so wie er die gewonnenen Resultate für die Wohlfahrt des Volks nützlich zu machen. Seine Leistungen als Astronom und Physiker, seine Arbeiten über Galvanismus und Magnetismus, seine Forschungen über die Polarisation des Lichts, seine Entdeckungen über den durch Rotation entwickelten Magnetismus wußte er selbst zu neuen mächtigen Hebeln für Handel und Seefahrt, Industrie und Landwirthschaft zu machen. In seiner Hand war die Wissenschaft nie eine todte.

Das Leben Arago’s blieb nicht frei von Stürmen. Geboren am 26. Februar 1768 zu Estagel, genoß er seine erste Bildung im Collège zu Perpignan, welche Stadt sich in spätern Jahren nicht

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_015.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2020)