Seite:Die Gartenlaube (1854) 031.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

beherrscht. Es muß für 40,000 Pfund Waare sehen, wenn es einen Artikel für 6 Penny 3/4 Stunden lang aussuchen und dann vielleicht noch in den nächsten Laden gehen soll. Ueber der Thür schweben ein paar ungeheuere Schwäne mit ausgebreiteten Flügeln, daneben Pfauen mit entfalteten Schweifen, auch Kraniche, Adler, Geier, Reiher, Rohrdommeln, Raben u. s. w. Weiter unten Burgen und Gebirgszüge von Schnepfen, Hühnern, Gänsen, Rebhühnern, Lerchen, Tauben, Enten (wilder und zahmer) Fasanen und allem möglichen Geflügel, das Sumpf, Wald, Luft und Gebirge von Großbritannien, Portugal, Spanien, Amerika, Indien, China und Cochinchina zu liefern vermag. Und wie sie sich drängen mit Körben und Droschken, als gält’ es, eine allgemeine Hungersnoth mit frikassirten Pfauenzungen zu curiren! Seht den feinen, feisten Herrn, wie er seine Droschke mit einem Fuder des besten Geflügels beladen läßt, verdrießlich einsteigt, den Jungen mit auf den Bock springen läßt und davon fliegt, um unzählig andern seiner Herren für dasselbe Geschäft Platz zu machen. Wer ist es? Nur ein gewöhnlicher Koch für eine bürgerliche Kaufmannsküche vielleicht in Westbourn-Terrace, oder ein „herrschaftlicher“ in Belgrave-Square.

Die Vögel- und Hasen- und Kaninchen- und Saugferkel-Gebirge verschwinden zusehends, aber ein ellenlanges Placat tröstet Dich. Der Eigenthümer des Ladens unterrichtet darin seine Kunden, daß er mit der ganzen Grafschaft Norfolk einen Contract für Tausende von Enten, Zehntausende von Gänsen u. s. w. geschlossen habe, welche alle bei Strafe von 6 oder 10,000 Pfund bis zu dem und dem Tage abgeliefert werden müßten. Also ehe die Londoner verhungern, essen sie lieber Gänsebraten und wildes Geflügel und Preisochsen.

Zu den Spezerei-, Frucht- und Italienerwaarenläden fallen uns gewiß die Alpenzüge von Feigenschachteln, Weintrauben u. s. w., besonders aber von großen und kleinen Rosinen auf. Ich fragte in einem solchen Laden, wie viel Rosinen da allein am Schaufenster aufgeschüttet wären. Antwort: 75 Centner (englische à 100 Pfund) Rosinen und 36 Centner Corinthen. Die Massen von überzuckerten Pommeranzenschaalen u. s. w., von Gewürzen entsprechen den Rosinen und den Tonnen von Talg in den Fleischerläden. Aus diesen Ingredienzien wird nämlich der bis in die ärmste Höhle herab zu Weihnachten unentbehrliche Plum-Pudding geknetet und gekocht. Von den Tausenden von Sparbänken und wöchentlichen Einzahlungen der Armen, um sich zu Weihnachten blos diesen Plum-Pudding zu sichern, wäre allein eine ganze pecuniäre Odyssee zu singen, eine ganze Bibel von den großen mit Bibelsprüchen bemalten und Stechpalmen und Fahnen decorirten Zelten, in denen unter polizeilicher Aufsicht Tausenden und aber Tausenden, die nichts gespart hatten, Plum-Pudding, Roastbeef und für eine Woche Thee umsonst gereicht wird. Zu Weihnachten thaut der Engländer auf, aber auch nur dies eine Mal im Jahre. Er ist nicht nur gastfreundschaftlich zu Weihnachten, er giebt auch reichlich für unzählige christliche Plum-Puddings-Vereine, so daß er sich sagen kann, jeder Irländer und Straßenfeger hat wenigstens heute am 25. (und auch einen Rest zum 26.) seinen Plum und sein Stück fetttriefendes Fleisch aus unzähligen, ungeheuern Anstalten der Wohlthätigkeit. Jeder Engländer ist auch jährlich einmal wirklich lustig und trinkt dabei bedeutend über den Durst, und das ist Weihnachten. Seitdem durch den Prinzen Albert der Weihnachtsbaum eingeführt und mit jedem Jahre populärer geworden, soll er sogar anfangen, „gemüthlich“ zu werden. Vor dem Prinzen Albert wußte man nichts von dem herrlichsten, schönsten Gute Deutschlands, dem Weihnachtsbaume mit seinen goldenen Lichtern, dem Tannen- und Honigkuchengeruche, den bunten Früchten daran und der heitersten, höchsten Kinder- und Familienfreude drum herum, die den Deutschen hernach durch alle Lebens- und Schicksalsstufen begleitet, und um Weihnachten immer wieder erwacht wie die heilige Erinnerung an eine Heimath und an verstorbene Mütter, zerstreute Geschwister und jauchzende Gespielen.

Die grüne Natur nimmt in England an den Weihnachtslustbarkeiten durch Stechpalmenzweige und Mistelzweige ihren historisch naturwüchsigen Antheil, der sich in Bezug auf letztere bis auf den Cultus der Druiden zurückführen lassen soll. Auch sie haben schon gern geküßt, denn unter dem Mistelzweige, der in der Mitte jeder englischen Weihnachtsgesellschaft oben im Zimmer hängt, versteht und practicirt jeder englische Mann und Junge das Privilegium, jede Dame, die er unter demselben trifft, zu küssen, und jede Dame, sich ohne Opposition gegen diese althistorische Sitte küssen zu lassen. Vielleicht ließe sich in Deutschland zu den Honigkuchengenüssen dieser von Honiglippen fügen. In Ermangelung von Mistelzweigen könnte man ja privilegirende Tannenzapfen aufhängen, insofern die Polizei keine Gefahren für die Tugend darin fände. – Die Birnam-Wälder von Stechpalmen, Mistelzweigen und auch lebendigen und abgeschnittenen Tannenbäumen kamen des Nachts zu dem Dunsinane von Covent-Garden, dem großen Londoner Central-Tempel des Frucht-, Blumen- und Gemüsemarktes und vertheilen sich von hier aus auf Karren und Wagen in Tausenden von Adern durch die unzähligen Straßenmassen, wo besonders die Läden der Frucht- und Gemüse-, der Kohlen- und Kartoffelhändler und Fleischer reichlich ausgegrünt erscheinen. Mancher fette Ochsenrücken sieht wie der Sattel eines Gebirges aus, auf dem Stechpalmen wachsen. Daß jede Familie, worin Töchter sind, für Mistelzweige sorgt, läßt sich bei den Schwachheiten der menschlichen Natur leicht denken. Schade, daß ich hier keinen Platz finde, von den Wundern des Obstes und der Blumen in Covent-Garden einen Gulistan zu singen. Stoff dazu ist mehr vorhanden, als im Rosengarten von Schiraz. Die Massen von Büchern und Illustrationen, welche die englische Literatur auf den Weihnachtsmarkt schleudert, die Massen von Kleiderstoffen und Luxussachen, die in unzähligen Placaten als die besten, billigsten und willkommensten Weihnachts- und Neujahrsgeschenke empfohlen werden (wir fanden neben dem aus dem Deutschen übersetzten Struwelpeter auch „Patent-Perrücken“), verstehen sich in London von selbst und können trotz ihrer Massen und Mannichfaltigkeit nicht weiter auffallen. Auch die Weihnachtsfreuden selbst innerhalb der Familien lassen sich besser denken, als schildern. Nur vergesse man dabei nicht, daß man hier viel mehr und fetter ißt und trinkt, als irgendwo. Alles Essen ist fruchtbar substantiell und fett, alles Getränk 40 Grad stärker, als in Deutschland, daher auch die Lustigkeit in der Regel derber. Man faßt selbst in feinen Kreisen derb zu und die feinste Elfe hat während dieser Zeit nichts dagegen. Doch nach Weihnachten darf Niemand Konsequenzen ziehen wollen, ohne derb zurechtgewiesen zu werden. – Nach Weihnachten kann man die ganze Decke voll Mistelzweige hängen, ohne nur zu einer Kuß-Miene berechtigt zu werden. Alles hat seine Zeit, sagt Salomo, und in England der Carneval blos seine Weihnachtszeit bis zum heiligen Dreikönigseiland, wo mit dem zwölften Kuchen, („twelfth cake“) dem großen, kostspieligen architektonischen und plastischen Conditorkunstwerke, die letzten Bissen der Lustigkeit für ein ganzes Jahr vertheilt und verzehrt werden.

Es bleibt mir nun noch blos Raum, zu sagen, was ich Alles nicht schildern kann, so sehr es auch mitten in die Weihnachtsfreunden gehört, z. B. die Ströme von Pantomimen, diese eigenthümlichen Zauberpossen, die zu Weihnachten über alle Theater sich ergießen und die jede englische Familie glaubt sehen zu müssen; oder die Qualen des „boxing day“ des „Geschenktages“ (26.), wo sich ganz London in zwei Klassen verwandelt, Bettler und Angebettelte, und mancher Haushalter, nachdem er Pfunde in Schillingen an alle mögliche Beamte, Diener, dienstbare Geister, Straßenkehrer, Schornsteinfeger, Wasser- und Gasmänner, Steuersammler u. s. w. willig ausgegeben hat, endlich wüthend wird, da er endlich die Entdeckung macht, daß alle zweimal kommen, erst die unrechten, die sich nur Titel anmaßen, und dann die wahren, so daß er sich nicht anders zu helfen weiß, als seinen Ueberzieher zu nehmen, davon zu laufen und seiner Köchin den Kampf zwischen den rechten und unrechten Bettlern zu überlassen.

Zu Weihnachten erlebt man, daß der Engländer eigentlich ein ganz braver, nobler, zugänglicher, geselliger, selbst gemüthlicher Mensch wäre, wenn er nicht zu viel „Geschäft“ und „Geld machte.“ Und die Lippen unter den Mistelzweigen sind oft so rosige und voll und unspröde, daß man es in den ersten vierzig Jahren nicht übel nehmen würde, wenn alle Tage Weihnachten wäre.

B. 




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_031.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2020)