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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

hätte. Er holte sie ein, sprang heraus und trat mitten in dem Wagengewühl an ihre Equipage heran, die aber in englischer Manier keine Seitenfenster hatte, so daß er sie weder zu sehen noch zu sprechen vermochte. Inzwischen entwirrte sich das Wagenlabyrinth und der Kutscher vorn trieb die Pferde wieder an. Cranston sprang vor und griff ihnen in die Zügel. Der Kutscher winkte einem Policeman, von denen Keiner in London in Bezug auf die Hemmung des Verkehrs Spaß verstehen darf. So riß er ihn unsanft zurück auf’s Trottoir und er sah seine junge Gemahlin wieder davoneilen. Während er ihr in seinem Wagen wieder nachsetzte, sah er bald, daß sie ihre Richtung nach einem Eisenbahnhofe inne hielt. Dieser war bald erreicht. Er versuchte ihr beim Einsteigen in den Weg zu treten, wurde aber hier von Frank, der ihr entgegeneilte, erst mit Worten, dann entschieden körperlich aufgehalten, sich ihr zu nähern. Er wollte mit Wuth und Verzweiflung ihn von sich schleudern, aber Frank hielt fest und wiederholte: „ich schütze sie nöthigenfalls mit meinem Leben vor Dir, wie ich versprochen.“ Die Menge, welche sich sofort um diese Scene drängte, veranlaßte Beide, sich in die Grenzen des äußeren Anstandes zurückzuziehen. Cranston nahm sogar eine sehr herrische Haltung an und schien Frank keines Blickes zu würdigen. Er behielt nur den Ausgang aus den Passagierzimmern erster Klasse im Auge und schien im Uebrigen so gleichgültig auszusehen, wie alle vornehmen Engländer.

Als schon die Thüren der Waggons geschlossen wurden, stürzte sich die sonderbarste aller eben getrauten jungen Frauen heraus und verschwand in einem der Coupees. Cranston riß sich jetzt von den Armen Frank’s mit Riesengewalt los und war im Nu in dasselbe Coupee gesprungen. In demselben Augenblicke flog aber auch Miß Sandford, wie wir sie noch nennen müssen, heraus und da der Zug sich schon in Bewegung gesetzt hatte, schloß ein Einsenbahnbeamter, entrüstet die paar möglichen Schritte noch neben her laufen zu müssen, das Coupee, indem er Cranston unwillig zurückstieß. Der Neuvermählte war so im davonrasenden Zuge gefangen und Miß Sandford fuhr mit ihrem ehemaligen Vormunde und Frank in ihrem Wagen schleunigst davon. –

Nach einigen Stunden war Cranston natürlich zurück und tobte im Hause seiner „Frau“ wie ein ächter Ehe-Tyrann herum, maltraitirte männliche Diener, schickte weibliche Dienstboten aus dem Dienste, da Keiner sagen wollte oder konnte, wo seine „Frau“ geblieben sei und schien im Ganzen beinahe kein menschliches Wesen mehr, geschweige ein liebender Gatte. Alles um ihn herum verlor den Kopf und folgte zitternd dem seinigen. Der ehemalige Vormund, der sich am hartnäckigsten zeigte, ward als ein „ungebetener Hochzeitsgast“ mit Polizei aus dem Hause gewiesen und überhaupt Alles hinausgeworfen, was die geringste Widersetzlichkeit kund gab. Mit einigen Dienern, die sich gefügt hatten, traf er neue Arrangements nach seinem Geschmack im Hause und begab sich dann in seine alte Junggesellenwohnung. Hier erwarteten ihn verzweifelte Gläubiger, die er aber alle glücklich machte, indem er das Portefeuille zog, welches ihm bei der Trauung in die Tasche geglitten war. Bei dieser Operation entdeckte er erst zwei Briefe von weiblicher Hand, den einen von ihr, den andern von der Schauspielerin, der ihm also vom Zimmer gestohlen worden war. Sie schrieb ihm, daß in dem Portefeuille Alles enthalten sei, was ihm an ihr liebenswürdig und des Besitzes werth erschienen; für’s Uebrige wollten und müßten sie in seinem Interesse für ewig geschieden sein. Er ward blaß, stellte seine Zahlungen ein und blieb wohl eine Stunde allein. Draußen entstand Heulen und Zähneklappern, denn es hieß, die Quelle des neuen Lebens sei erschöpft, der Mann habe allen Werth verloren. Als er aus dem Hause kam, traten ihm die noch übrigen Geschäftsfreunde in den verschiedensten Positionen in den Weg, wohl wissend, daß sie auf der Straße kein Recht hatten, sich auf eindringliche Weise bemerkbar zu machen. Er aber kehrte stolz und leicht mit ihnen um und ließ die Banknoten fliegen, wie einer der Tausende die Zettel, worin Aerzte, Schuster und Hutmacher ihre billigsten und besten Waaren im Königreiche empfehlen, auf den Straßen beinahe gewaltsam dem Publikum aufdringt.

Später sahen ihn die Leute fortfahren, und schon am folgenden Morgen hieß es in der guten Gesellschaft, Miß Sandford habe sich vergiftet, Cranston aber erschossen. Man anklagte ihre Seelen, die nun in ihren Sünden und mit einer Todsünde hinübergefahren seien, und lief und fuhr umher, um zu erfahren, ob sich Miß Sandford wirklich mit Lorbeergeist oder blos mit gewöhnlicher Blausäure vergiftet habe.

Mit Hülfe einiger Sovereign’s, denen in England Niemand so leicht widersteht, hatte Cranston indeß den Aufenthalt seiner Frau bald erfahren. Entschlossen, sich ihr gegenüber als Mann geltend zu machen und den Gründen auf die Spur zu kommen, aus denen so romantische Verwüstung hervorgegangen, suchte er sie auf und folgte dem Diener auf dem Fuße, ohne auf irgend eine Förmlichkeit Rücksicht zu nehmen. Rasch trat er ein und dicht vor Alice hin, die ihn ohne Ueberraschung kalt ansah und dann die Thür suchte. Er ergriff fest ihre Hand und sagte vorwurfsvoll: „Alice, Du hast als schwaches Weib gehandelt, ich als starker Mann und so will ich auch ferner. Du darfst Dich nicht entfernen, ohne Deine Schuld an mich abzutragen.“

„Alles, was Ihnen zukommt, war in dem Portefeuille enthalten.“

„Alice, denke Deiner würdiger. Kannst Du einem Manne Herz und Hand gegeben haben, der so niedrig steht? Du hast mich geliebt, Du liebst mich, sonst ständest Du niedriger, als ich jetzt in Deinen Augen. Deshalb, Alice, mußt Du zunächst selbst anerkennen, daß Du Dich in Deinem Herzen verpflichtet fühlst, vor allen Dingen das Aergerniß, das Du Dir und mir öffentlich gegeben, zu erklären.“

„Gut denn. Sie wollten durch die Kirche und meine Kasse dem Schuldgefängniß entgehen. Ich habe Sie so sehr geliebt, daß ich mich entschloß, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Sie bekamen durch den Trauungsakt ein Recht auf mein Vermögen. Dieses erhielten Sie. Auf meine Person haben Sie keine Ansprüche.“

„Doch Alice! Doch!“

„Ich werde jeden Anspruch zurückweisen und mich in dem Augenblicke tödten, wo ein Mensch, den ich verachte, der auf der niedrigsten Stufe anlangte, sich – sich –“

„Jetzt sag’ mir deutlich und schlicht, warum Du mich verachtest.“

„Ich will es. Ich will auch diese Erniedrigung noch ertragen. Ihnen in’s Gesicht zu sagen, was ein moralisch nicht ganz verworfener Mann einem Weibe von Ehrgefühl erspart haben würde. Sie haben auf dem Wege zum Altare mit mir einer Schauspielerin öffentlich und in Gesellschaft ewige Treue geschworen und auf Ehre – auf Ihre Ehre geschworen, sie bei mir einzuführen. Und jetzt entfernen Sie sich!“

Mit diesen Worten wandte sie sich um, um in ein Nebenzimmer zu gehen.

„Noch nicht, Alice! Das Verhör ist noch nicht zu Ende. Du hast mir noch mehr Sünden zu beichten. Alice! Bleib! Ich sage Dir, bleib! Heraus mit der Sprache! Ich versichere Dich von vorn herein einer vollständigen, herzlichen Amnestie!“

Er hielt sie gewaltsam zurück. Sie riß sich los und zog in höchster Angst und Erbitterung an der Klingel. Ein Diener kam herein. Cranston befahl, er solle sich sogleich entfernen. Alice befahl, er solle bleiben. Er zögerte. Cranston sagte: „Mein Freund, ich hoffe. Sie haben so viel Lebensart, zu verstehen, was Sie bei diesem Doppelbefehl von Mann und Frau thun müssen. Ich wünsche jetzt mit meiner Frau allein zu sein.“ Der Diener entfernte sich, wie eine wandelnde Wachsfigur, ohne auf den Befehl und das folgende Angstgeschrei Alice’s Rücksicht zu nehmen.

„Jetzt höre, Alice! Du weißt ganz genau, wie ich war und bin. Ich habe Dir keine meiner jugendlichen Fehler verschwiegen, auch als Du noch nicht das süßeste Recht auf mein volles Vertrauen hattest. Du weißt, ich war, so zu sagen, ein lockerer Bursche. Ich habe es Dir mehrmals geklagt, aus tiefstem Herzen ehrlich und bitter, daß mich, meine äußerliche materielle Lage nöthigte, unsere noch nicht ganz aufgeblühte Liebe in die Ehe hinein zu treiben, die Ehe, deren Eingangsformalitäten, deren jetzige Form in der „guten Gesellschaft“ mir so ungeheuer nüchtern vorkömmt, daß ich mich mit Witz und Ironie und Spott mit Kräften dagegen sträubte. Sie kam mir vor wie eine Entweihung unserer Liebe, da sie sich noch nicht naturgemäß bis zu der Innigkeit und materiellen Reife entwickelt hatte, wo solch ein Bund der Welt wegen der holden Braut namentlich nicht mehr zu früh erscheint. Das weißt Du Alles. Von der geistreichsten, liebenswürdigsten Dame, die ich nach Dir kenne und die des Gegensatzes wegen die passendste Freundin für Dich sein wird, habe ich oft zu Dir gesprochen und mehrmals den Wunsch geäußert, sie mit Dir bekannt zu

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