Seite:Die Gartenlaube (1854) 042.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

auf. Am betrübendsten ist es aber, daß sich selbst die meisten derjenigen Aerzte, denen die großartigen Fortschritte der medicinischen Wissenschaft nicht fremd geblieben sind (die sogen. rationellen oder physiologischen Mediciner), doch von dem allgemeinen Strudel fortreißen lassen und nicht um ein Haar weniger quacksalbern, als die unwissenschaftlichsten Heilkünstler. Fragst Du warum? so heißt’s: mit so unwissenden und abergläubischen Kranken ist ja nichts Vernünftiges anzufangen. Und allerdings scheint es auch wirklich so, denn vernünftige diätetische Vorschriften werden von den meisten Kranken verachtet und nicht honorirt, während sie für ein Recept, ein Pülverchen, ein Geheimmittel und dergl. schwärmen und dabei das Geld so gut wie zum Fenster hinauswerfen. Kurz, in Sachen der Heilkunst steht es heutzutage so, daß dieselbe weit hinter der Wissenschaft zurückgeblieben ist und sich, trotz des täglich wachsenden Wustes von Arzneimitteln und von Heilmethoden doch in einem ganz erbärmlichen Zustande befindet und zwar blos deshalb, weil die Menschheit über sich und über das, was in der Natur vorgeht, in der größten Unwissenheit lebt. Soll denn das nie anders werden?

(Ueber die Heilkunst der Jetztzeit in einem spätern Aufsatze.)

(B.) 




Aus der Gewerbswelt.

Mitgetheilt von Friedrich Georg Wieck.
Die wollenen Lumpen.
„Nur die Lumpe sind bescheiten.“ 
Goethe . 

Lumpen sind allerdings eine bescheidene Waare. Es sind die Ueberbleibsel unserer Gewänder und Kleidungsstücke, unserer Bett- und Möbelüberzüge, unserer Decken und Teppiche, unserer Segel und Netze, unserer Stricke und Emballage. Das endliche Loos aller unserer schönen leinenen, baumwollenen, wollenen und seidenen Stoffe ist: zu Lumpen zu werden. Die Spitzenhaube und das Züchtlingshemd, Bettlerkittel und Königsmantel: als Lumpen werden sie sich alle gleich und müssen es sich gefallen lassen, sortirt zu werden, nicht nach dem gewesenen Zeugwerthe, sondern nach dem jetzigen Lumpenwerthe: in Schwarz aus wollenen Lappen u. s. w., Filtrir zu Löschpapier; Pack, grobe aus Säcken und dergleichen, auch Schrenz genannt; Concept, Adler, Kanzlei und Post aus mehr oder minder feinen baumwollenen und leinenen Zeugen. Die theuren Wollenstoffe und die kostbaren stolzen Seidenzeuge sind die werthlosesten Lumpen, weil man aus ihnen nicht das schöne weiße Papier machen kann: den Träger unserer Gedanken, den Vermittler unserer Empfindungen, den Trost aller verkannten Dichter, die Hülfe bedrängter Schuldner und die, wenn auch oft trügerische Hoffnung lange hingehaltener Gläubiger, das Spielzeug der Börse und die Stütze der Finanzwirthschaft.

So bescheiden nun auch die Lumpen sind, so anmaßlich werden sie, wenn sie sich in Papier verwandelt haben. Das bescheidenste Linnen wird das alleranmaßlichste Velinpapier, während der Frack der feinen Gesellschaft sich als – Löschpapier in derselben nicht mehr sehen lassen kann.

Unsere nachdenkenden Leser werden es daher sehr begreiflich finden, daß Lumpen oder Hadern, wie man sie auch wohl nennt, einen höchst wichtigen Handelsartikel ausmachen, der, wie alle Papierfabrikanten klagen, von Tage zu Tage verhältnißmäßig theurer und seltener wird, weil die Papierfabrikation überall doch noch rascher fortschreitet als die – Zerrissenheit. In einigen Ländern bestehen Ausfuhrverbote von Lumpen, während man fertige Zeuge willig herein läßt, so daß es fast den Anschein gewinnen könnte, als müsse die Erzeugung von Lumpen gute Rechnung geben.

Wir haben gesehen, daß die Lumpen gleichsam als abgestorbene Zeuge zu betrachten sind, die sich in der Form von Papier wieder beleben. Dieses geht in Makulatur, in Spähnen und in mancher andern Form wieder zu Grunde in den Holländern der Papierfabriken und stellt so ein anschauliches Bild des Kreislaufs der Materie, der steten Verjüngung des Stoffs auf! Eine Fabrikation der neueren Zeit giebt zu dieser Behauptung einen neuen Beleg. Jeder, der über den Lumpenartikel nicht so ganz leicht hinweg denkt, wird sich fragen, wo denn die vielen wollenen Lumpen, die, wie unschwer einzusehen ist, nur in sehr geringer Menge für ganz gemeine Papiersorten verwendet werden, endlich hinkommen? Die Antwort darauf ist, daß sie endlich, nach mancherlei Schicksalen, über deren Schilderung wir hinweggehen wollen, so weit herunterkommen, daß sie – wenigstens vor noch nicht langer Zeit, und zum Theil auch noch jetzt – als Dünger aufs Feld gefahren werden müssen.

Jene neue Fabrikation hat sich nun inzwischen jener armen alten Lumpen angenommen, vorausgesetzt, daß sie aus ungewalkten Zeugen herrühren, daher u. A. von Strumpfzeugen, Merino’s, Thibets, Flanellen u. s. w., und vorzugsweise nimmt sie auf Stoffe aus Kammgarn Rücksicht. Jene gutsortirten, wollenen Lumpen nimmt nun die Fabrikation, wäscht sie zuförderst rein aus und bringt sie, zuweilen gleich unter Wasser, in eine Maschine mit rasch umlaufenden sägenartigen Blättern.

Diese zupfen, zerren und reißen endlich die Fäden auseinander, so daß dieselben sich wieder in ihre ursprünglichen Wollfasern auflösen.

Hat die schlaue Fabrikation es so weit gebracht, so bringt sie jene neuausgezupften Wollfasern mit ein bischen frischer Wolle vermischt, in die Wollkratze. In derselben entsteht nun eine zarte, lockere Wollwatte und aus dieser wird endlich aus den bekannten Spinnmaschinen mit ungemeiner Geschwindigkeit ein neuer Faden gesponnen. Die weitere Verarbeitung jenes Fadens auf dem Webstuhle zu allerhand Zeugen, erklärt sich von selbst. Augenscheinlich ist ferner, daß in Folge der Vermischung der verschiedenen Farben in den wollenen Lampen – es wäre denn, man sortirte sie vorher nach der Farbe – eine Melirung entsteht, die in der Regel die Eselsfarbe oder, wenn man lieber will, die Mausfarbe besitzt. Auch sind die aus der Lumpenwolle (franz. Chiffons de laine engl. Shoddy wool) gefertigten Zeuge nicht so haltbar und können nicht so fein gemacht werden, als die aus friscker guter Wolle gefertigten. Jedoch, sie sind wohlfeiler; und was thut nicht ein guter Hausvater oder eine gute Hausfrau in dieser theuren Zeit, wo es so viele Ausgaben giebt, um nur etwas recht wohlfeil zu erhalten!

Kaum bleibt ein Zweifel, daß gewisse Waaren aus England, wo die Fabrikation aus Lumpenwolle schon eine geraume Zeit lang betrieben worden ist, lumpenwollig nach Deutschland eingeführt werden. So lesen wir u. A. in einem ganz neuen Geschäftsberichte aus Leeds: „Eine der vortheilhaftesten und am schwunghaftesten betriebene Fabrikation in der Umgegend von Leeds, ist in Batley und Nachbarschaft angesiedelt. Sie besteht in der Wiederverarbeitung von Wolllumpen in Vermischung mit etwas neuer Wolle. Man fertigt allerlei Stoffe, wesentlich für Männertracht daraus. Die melirten Witneys (ein Beinkleiderstoff) sind darin ein sehr gangbarer Artikel.“ In Sachsen haben sich zu verschiedenen Zeiten mehrere Unternehmer ebenfalls angelegen sein lassen, beregte Fabrikation einzuführen. Da dieselben aber nur die Lumpenwolle erzeugten, nicht zugleich aber fertige Waare machten, so fanden sie Schwierigkeiten, denen gegenüber sie die Fabrikation wieder einstellten. Unseres Wissens giebt es jetzt im nördlichen Deutschland nur in Borna und in Ruhla zwei Fabriken, welche die Lumpenwolle auf Filzwaare verarbeiten; dahingegen besteht in Baden eine bedeutende Fabrik, welche dem Vernehmen nach dreihundert Arbeiter beschäftigt, und jene Wiederbelebung alter Wollstoffe, die „Phönix-Wollerzeugung“ in großem Maßstabe und mit aller Vorsorge betreibt. Zumal fehlt es nicht an Reinigungsanstalten, Wasch- und Badehäusern für die Arbeiter.

Unserentheils können wir vom gewerblichen Gesichtspunkte jene Fabrikation nicht als bedenklich betrachten, vorausgesetzt, daß

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_042.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)