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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Durch die einzige Thür tritt man in einen mit Steinen gepflasterten Raum, der an hundert Personen fassen kann. Rechts von der Thüre sind die dem Publikum verschlossenen beschränkten Lokalitäten des Beamten, der die Bücher führt, des Arztes, welcher mit einer Untersuchung beauftragt wird, und der zur Reinhaltung der Anstalt bestimmten Diener. Wohnungen befinden sich keine darin. Links von der Thür hinter drei großen Schaufenstern, von denen das Publikum durch eine eiserne Schranke in einiger Entfernung gehalten wird, erblickt man auf geneigten Steintafeln die nackten Verunglückten, auf die ein Wasserstrahl fortwährend geleitet, wird, während zu ihren Köpfen an der Wand die zu ihnen gehörenden mitgefundenen Kleider und Geräthschaften u. dgl. aufgehängt sind. Diese sämmtlichen Reste bleiben hier ausgesetzt, bis sie erkannt werden. Die Verwandten oder Bekannten können sie dann zurückfordern und haben nur ganz unbedeutende Kosten zu entrichten. Das jetzige Gebäude besteht erst seit 1835.

Von 1836 bis 1846 wurden hier 3344 Leichen und 94 Leichentheile ausgesetzt, wovon nur 378 unerkannt blieben; unter 8 Ausstellungen haben also 7 ihren Zweck erreicht.

Oft schweigt diese Morgue wochenlang, das geöffnete Thor sperrt sich langweilig auf, nur einzelne unentbehrliche Besucher, die Stammgäste des Schauers, treten schüchtern ein, werfen einen enttäuschten Blick auf die wenigen Lumpen, die von verweseten Leichen allein noch übrig geblieben an den schwarzen Nägeln hängen. Die Steintische sind trocken und leer und das sonst nasse Pflaster des Zuschauer-Raumes glänzt staubig im matten Tageslichte.

Plötzlich aber, ohne daß eine Zeitung vielleicht das Schauspiel ankündigt, wimmeln die Umgebungen des finstern Häuschens. Der Bajazzo, der Kaninchenhändler und der Mann mit den langen, besenartigen Haaren schreien ihre Wunder und Witze aus, der Mineralog kramt seine schönsten Krystalle auf der Brüstung der Brücke aus und die Gaffer, welche die Kunst der Angler bewundern, erdrücken einander, bevor noch ein einziger Fisch seine Albernheit bereut. – – Es ist ein Tag der Morgue, die Fischer haben einen Pariser aus der Seine gezogen, oder in irgend einem „häuslichen Leben“ hat die Polizei ein Mittelding zwischen Tod und Mord, zwischen Krankheit und Selbstmord gefaßt.

Das große Volk der Pariser, Mann und Weib, Greis und Kind, Reich und Arm, Publikum und Kritiker, Polizei und Taschendiebe sind auf den Beinen, vor und in der Morgue, und der Beamte spitzt die Federn, um „die Mähre zu erzählen eines Menschen, der an sich und der Welt verzweifelte“, oder den ein „mitfühlendes Geschöpf“ um einiger Groschen willen erschlug.

Dann liegen auf den geneigten Steintischen die blau aufgedunsenen Glieder eines „Unbekannten“, der „vierzehn Tage im Wasser geblieben“, oder die rothgestreiften Züge eines Erstochenen, oder das schwarz unterlaufene Gesicht „eines erhängt Gefundenen“.

Wer ist’s? Woher kam er? Wer brachte ihn? Niemand kann Antwort geben und jeder frägt. Die Weiber voran, die Kinder zur Seite und die Provinzialbewohner in dichten Schaaren fragen, zweifeln und erzählen Geschichten, um einander die Haare zu Berge zu treiben. Der Doktor in seinem „Arbeitszimmer“ hat der Polizei seinen unentbehrlichen Fingerzeig gegeben; die Polizei hat seine feinhörigen Agenten ausgeschickt, die in allen Trachten unter das Publikum gemischt, meinen und zweifeln, klagen und spotten, streiten und declamiren, und an jedem Ohr und Herzen horchen, wo sich vielleicht ein böses Gewissen oder eine berauschte Zunge verrathe.

Neben der blauen Blouse und den nägelbeschlagenen Schuhen des armen Tagelöhners glänzen an den schwarzen Nägeln die lackirten Stiefeln und der feine schwarze Rock des wohlhabenden, des ruinirten oder des abenteuernden Boulevardkindes und die alten Fetzen des Weibes aus dem Volke triefen neben den seidenen Flittern der „Geliebten“, die ein eifersüchtiger oder ein diebischer Liebhaber abseits geführt hatte.

In dem nahen Justizpalaste sitzt der Instructionsrichter mit seinen Schreibern bereit, jede Aussage, die ihm dienlich scheint, mit einer Anweisung auf zwei Francs zu belohnen, und in der eben so nahen Polizeipräfectur laufen einander die witternden Agenten die Zehen ab.

In der höhern Gesellschaft von Paris muß ein Unglück dramatisch aussehen, um die Ehre zu verdienen, daß man von ihm spreche… in der großen untern Gesellschaft muß ein Fall mit der Morgue, mit der Polizeipräfectur und mit dem Justizpalaste in naher Berührung stehen, um in allen Familien, in allen Garküchen, in allen Werkstätten beredet und berüchtigt zu werden, um auf allen Märkten gesungen zu werden, in Verse gebracht und von der Drehorgel begleitet, nach der beliebten Melodie: „Ein Vöglein kam an’s Fensterlein etc.“

Darauf verfällt die Morgue wieder in ihr finsteres Schweigen, die Stammbesucher, allein treu, nahen sich wieder schüchtern, der Bajazzo, der Mann mit den langen besenartigen Haaren verschwinden … der Untersuchungsrichter und die Kanzleien der Polizeipräfectur schreiben und schreiben, die genialsten Agenten der Polizei bewahren in ihren fernsten geheimsten Gehirnfalten die unbestimmten, farblosen Schimmer von Spuren, auf die sie der Zusammenlauf in der Morgue gebracht und Tage, Monate, wohl auch Jahre vergehen … Plötzlich faßt eine Hand mitten in seiner unschuldigen Zerstreuung und Sicherheit einen Schuldigen, der vor so langer Zeit einen Streich gethan, von dem die Morgue so leise erzittert hatte, als die Volksmenge zuströmte.

Dann enthält die Tribunal-Zeitung einen kurzen Artikel, „wie von ungefähr eines der gefährlichsten Subjecte in’s Garn gelaufen“ … die Assisen hallen von den glänzenden Anklageakten und Vertheidigungen wider und wiederum eines Tages sagt uns ein kurzer Brief der Tribunal-Zeitung, daß am genannten Datum die menschliche und göttliche Gerechtigkeit gesühnt ward von dem ….

Die Morgue aber steht anspruchlos da. Tag für Tag, „eine Mausefalle“, wie die Polizei-Agenten sie nennen, „eine nützliche Secirschule“, sagt der Mediciner, „eine gräßliche Baracke“ ruft der Bürger aus, „ein ganz profitabler Platz“, meint der Mann mit den langen Haaren, „pfui, ein schreckliches Wort“, entsetzt sich die elegante Welt.




Blätter und Blüthen.

Kriegsrath Klepper. Wer wollte es in Abrede stellen, daß unsere Zucht- und Besserungshäuser selbst der bessern Zucht und der Verbesserung oft mehr bedürfen, als viele der in ihnen eingesperrten Verbrecher; daß namentlich die Benennung „Besserungsanstalten“ eine bittere Ironie ist. Geschieht nun gleichwohl auf diesem Gebiete sehr wenig, diese Anstalten ihrem Zwecke entsprechender zu machen, so verdienen die Anstrengungen einzelner Männer um so mehr die öffentliche Anerkennung, da sie meistens mit eigener Aufopferung verbunden sind, und auf allgemeine Anerkennung, auf prunkenden Lohn kaum rechnen können, indem die Mehrzahl der Menschen von dem Kreise ihres stillen Wirkens die Blicke mit Geringschätzung oder Ekel abwendet. Deshalb haben wir das Streben Appert’s mit lebhaftem Interesse verfolgt, und ihm die vollste Anerkennung gezollt, obgleich die Früchte desselben bis jetzt noch nicht segensreich zu Tage gefördert worden sind. Deshalb stimmen wir aus vollem Herzen in das Lob, welches dem Spanier Montesinos, Director des Gefängnisses in Valencia, in Nr. 47 der Gartenlaube von 1853 gezollt wird. Eben deshalb aber finden wir uns auch veranlaßt, der Vergessenheit das Andenken eines deutschen Landsmannes zu entreißen, der auf dem gleichen Gebiete mit Montesinos in unserer Zeit viel Gutes geleistet hat, und wenn auch nicht in einem kleineren Wirkungskreise gleich dem Spanier so wahrhaft Ausgezeichnetes, dafür in einem weit ausgedehnteren viel Gutes, so daß die Summe seines Verdienstes kaum geringer sein dürfte.

Klepper, Königlich Preußischer Kriegsrath, ein Mann, der noch in späterem Alter das Gemüth eines Kindes bewahrte, der kein größeres Vergnügen kannte, als Werke der Wohlthätigkeit und Menschenliebe zu üben, hatte sich während der Freiheitskriege bei der Verwaltung der Lazarethe rühmlichst ausgezeichnet. Man fand dabei Gelegenheit, seine seltene Aufopferungsfähigkeit und Selbstverläugnung, sowie seine wahre Menschenliebe kennen zu lernen, und dies gab Veranlassung, ihn in den Zwanziger Jahren mit einer Revision sämmtlicher Strafanstalten der preußischen Monarchie zu beauftragen. Er wurde von dem Ministerium mit den ausgedehntesten Vollmachten versehen, und sämmtliche Directoren, Obern und Unteraufseher aller den Civilgerichten unterworfenen Zucht-, Straf-, Corrections-Arbeitshäuser, oder welchen Namen immer dergleichen Anstalten führen mögen, erhielten den Befehl, seinen Anordnungen unbedingte Folge zu leisten, und in besonderen Fällen stand ihm unter seiner persönlichen Verantwortlichkeit sogar das Recht zu, niedere Beamte augenblicklich von ihrem Amte zu suspendiren oder ganz abzusetzen. So kam es denn, daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_044.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)