Seite:Die Gartenlaube (1854) 098.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

geduldig und still, wie andere Legionen englischen Volkes, unter den Bäumen des Park-Spaziergangs, die weder Blätter noch Früchte trugen, selbst nicht einmal einen der vielen Jungen, die hinaufkletterten und auf das freundliche Geheiß der höflichen Policemen immer sogleich ebenso freundlich wieder herabstiegen. In der That ein großes Wunder im Kleinen. Die Doppelreihe der Volksmassen war im Park allein eine gute englische Meile lang, und sie warteten zwei Stunden! Zeit und Gelegenheit und Veranlassung genug zu einigen Zänkereien, Widersetzlichkeiten und Arretirungen. Fischblutiges, nüchternes, freies englisches Volk! Nicht eine einzige Widersetzlichkeit? Nicht ein einziger Scandal? Nicht nur dieses nicht, nein auch kaum ein lautes Wort, zwei Stunden lang hunderttausende freier Menschen im Freien oft bis zum Rippenbrechen zusammengedrängt – und kaum ein lautes Wort! In der That konnte man einzelne etwas laute Aeußerungen der 40 Fuß weit gegenüberstehenden Volksmauer auf unserer Seite vernehmen. Hier und da machte man wohl halblaut einen Witz mit den sehr spärlich vertheilten Policemen, die müßig mit ihren „Flöten“ (den kurzen Stöcken, ihrer einzigen Waffe) spielten und kaum etwas Anderes zu thun hatten, als die „Ladies“ in die erste Linie zu bringen, insofern die dadurch zurückgedrängten Herren, die man hier, wenn der Hut nur einigermaßen gebürstet ist, immer „Gentlemen“ titulirt, es nicht vorzogen, auf ihren Plätzen zu bleiben. Sonst passirte während der zwei Stunden gar nichts. Zwar fuhren hinter der linken Reihe öfter prächtige und seltsame Wagen herauf mit dienstbaren Geistern, die buntscheckiger aussahen, als Seiltänzer und Reitkünstler im Dienste, aber das Alles störte die kaltblütigen Massen nicht. Nur einmal wurden sie ganz unten an der Kaserne der Pferdegarde (dem entgegengesetzten Punkte vom Buckingham-Palast, der londoner Residenz der Königin, zwischen welchen sich St. James-Park ausdehnt) ganz ungemein lebendig und lautes Hut- und Taschentuchschwenken und Jauchzen und Jubeln von Oben und Unten um einen einzigen Wagen herum, aus dem zwei Herren mit Schnurrbärten freundlich, aber doch auch traurig und verlegen, herausnickten. Der Eine trug Civilkleider, der Andere, ein älterer Herr mit hoher Stirn und schöner Nase, eine Uniform. Letzterer, hieß es, ist der türkische Gesandte.

Sie erlassen mir wohl die weitere Beschreibung des königlichen Zuges, der ungefähr um 4 Uhr in meine Nähe kam. Die prächtige Leibgarde mit ihren großen kohlschwarzen Rossen, die rothangeputzte Wache des Towers, die jetzt genau noch so aussieht, wie zu Maria Stuarts Zeiten, die kostbaren Staatskarossen, – das Alles ist schon so oft beschrieben worden, daß ich es nicht wiederholen mag. Jetzt endlich erschien in Mitte ihrer Krieger die Königin, deren friedliche Regierung noch durch keine Gewaltthat befleckt ward und welche in der beschränkten Sphäre ihrer politischen Macht für Dichter, Künstler und Gewerbe mehr gethan hat, als unbeschränkte Fürsten für Gefängnisse und Festungen.

An dem Staatswagen der Königin fiel mir Alles auf, erst die Schönheit der Pferde, dann die Pracht ihrer Geschirre, dann die komische Figur auf dem vordersten Paare mit rother Jacke in Gold, der schwarzen Sammetmütze und der ungeschickt hinten in die Höhe klaffenden weißen Perrücke, am Meisten die in ungeheuerer goldener Pracht thronende unmenschliche Fettigkeit des Hauptkutschers auf dem Bocke, der manchen Thron an Goldschmuck übertrifft, dann die goldene Krone auf dem Wagen oben und zuletzt die drei roth und golden überladenen Diener hinten. Alles prächtig und so geschmacklos. Es kann für das edle Paar, die Beide stets bewiesen haben, daß sie wahrhaft ästhetischen Geschmack haben, kein angenehmes Gefühl sein, in dieser altconservativen ungeschickten Pracht, welche den englischen Thron und alle staatsmännischen Akte noch heute umgiebt, öffentlich erscheinen zu müssen. Diese constitutionelle Beschränktheit, welche die Lords nicht antasten lassen, aus Furcht, daß der Thron an Festigkeit für ihre Interessen verliere, mag dem englischen Königspaare eine der empfindlichsten sein, wie die ganze althistorische Hofetikette, welche die der Ludwigs von Frankreich an Steifheit weit übertrifft, ohne den Geist derselben zu erreichen.

Durch einen seltsamen, glücklichen Zufall ward es mir möglich, mich in einen Winkel des Oberhauses einschmuggeln zu lassen, wo ich denn thatsächlich eine englische Parlaments-Eröffnung in ihrer ganzen überladenen Pracht und historisch-conservirten Geschmacklosigkeit vor meinen Augen – freilich zwischen verschiedenen Schultern und Köpfen hindurch – sich entwickeln sah. Wie ich durch das Gedränge und die prachtvollen Gänge und Hallen des neuen Parlamentsgebäudes – des umfangreichsten und prachtvollsten aller gothischen Architecturen (wobei ich wieder vom „Geschmack“ absehe) auf meinen Platz kam, weiß ich noch heute nicht, kurz ich war da und dachte so lange, bis die Königin kam, nichts als: „Dieses Haus der Lords ist ein Monstrum von Pracht! Ließe man für 100,000 Pfund heraus stehlen, würde es sehr gewinnen. Doch darüber vielleicht ein andermal. Jetzt welch ein Anblick! Der maßlose Reichthum der englischen Aristokratie strahlend und blendend aus tausend diamantenen kleinen Sonnen von schönen und häßlichen Hälsen und Köpfen. Die Orden aller Fürsten Europa’s und Asiens auf den Uniformen von Gesandten, Legations-Secretairen, Ministern und Diplomaten aller Art, die sich in der Gesandtenloge in solcher Masse drängen, daß ich mich des gottlosen Gedankens nicht erwehren konnte, Einige davon seien ganz überflüssig. Was den russischen Gesandten betrifft, so sahen bald die Meisten, daß er nicht da war. Das diplomatische Corps erfreute sich trotz des Himmels voller Sterne auf seinen Busen nur beiläufiger Aufmerksamkeit, bis plötzlich alle bewaffneten und unbewaffneten Augen auf sie gerichtet waren und lange einem lebhaften Feuer von Augen und Bemerkungen ausgesetzt blieben. Es galt blos dem türkischen Gesandten Musurus, der mit seinem rothen Fetz und seiner blauen besternten Uniform diesem gehaltlosen Feuer eine sehr ruhige, würdige Kälte in seinem Gesicht entgegenzusetzen schien. Die Herren Collegen in der Loge grüßten ihn zum Theil sehr warm. In meiner Kurzsichtigkeit konnt’ ich nicht bemerken, ob er dadurch erwärmt ward. Der Türke ist im Allgemeinen ein schlechter Diplomat, er hält Wort, da er die Worte für das hält, was sie wirklich bedeuten. Man sieht, die Türken sind halbe Barbaren.

Die Lords, welche nichts vertreten, als sich selbst, spielten um den berühmten Wollsack herum, (vor welchem zunächst die höchsten Gerichtspersonen – natürlich alle in mächtige, weiße Perrücken gehüllt, saßen) mit ihren langen, scharlachrothen, reich verbrämten Roben und fidibusbecherartigen Turbans eine eigenthümliche Rolle. Da das Ganze auf mich den Eindruck einer seltsamen mittelalterlichen Theaterscene machte, konnte ich sie lange für nichts anderes als Statisten halten. Die Minister bewegten sich links vom Throne an einem großen grünen Tische und entfernten sich Punkt 2 Uhr, gerufen von Trompetenstößen, welche die Ankunft der Königin ankündigten. Nach 10 Minuten trat die Königin mit einem glänzenden Gefolge ein, an der linken Hand geführt vom Prinzen Albert und begleitet von zwei Damen. Die ganze Versammlung erhob sich, bis die Königin vom Throne herab höflich bat, man möge Platz nehmen. Sie trug eine Tiare von Diamanten und eine diamantene Halskette, und über einem weißseidenen Kleide einen reichen Ueberwurf von claretweinfarbigem Sammet. Prinz Albert stand zur Linken in einer reichen Militär-Uniform, die er nur in unumgänglichen Fällen trägt, rechts der Marquis von Winchester, vor ihm Marquis von Landsowne, die Krone auf einem Sammetkissen haltend. Vor ihr selbst kniete der alte Premier-Minister Aberdeen, mit Muse das große Reichsschwert haltend. Um sie herum prächtige Militäruniformen, ungemein alte aristokratische Damenköpfe mit Schmucksachen, die nur nach Tausenden von Pfunden geschätzt werden und zum Theil als alte historische Familienerbstücke ihre Geschichte haben, die uns verschlossen, aber im „hohen Leben“ geläufiger ist als die Geschichte von England; ferner viel Scharlach, viel Perrücken, viel Backenbart und nobles Gesicht dazwischen, so viel eben der Backenbart Nobles läßt. Die Königin gab sofort, wie vorgeschrieben, Befehl, daß die Herren des Unterhauses eingeladen würden zu erscheinen. Während der Pause sprach sie mit Aberdeen, aber nicht lange, denn nach zwei Minuten entstand ein so lächerlicher Tumult durch das ungestüme Hereindrängen der Unterhäusler, als wenn sie als muthwillige Buben alle auf einmal aus der Schule heraus wollten. Einige ehrwürdige Gestalten kamen in Gefahr auf die Nasen zu fallen. Alle verbissen ein natürliches Lachen, das Ihre Majestät zuerst brach. In der That lachte sie mitten in diesen steifen Formalitäten ganz natürlich weiblich ziemlich hell auf, zuerst nur mit der neben ihr stehenden Herzogin von Southerland, dann aber wohl ziemlich mit der ganzen auserlesensten Gesellschaft. Diese Natürlichkeit der Unterhäusler und die von ihr elektrisch aus zuckende elektrische Batterie natürlichen Gelächters

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_098.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)