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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

that mir unendlich wohl, da man jetzt sah, alle diese reichen, theatralisch verkleideten Gestalten auch blos Menschen waren mit Augen und Zwerchfellen wie andere Leute von gar keiner Geburt. Als das Unterhaus endlich placirt war, überreichte der Lord-Kanzler der Königin kniend die Thronrede, die sie mit lauter, schöner, ausdrucksvoller Stimme verlas, nur einige Male durch natürliches „Gedrängle“ und ein zischelndes Privatgespräch zweier Auserwählten gestört und unterbrochen. Nachdem sie gelesen, zog sie sich an der Hand ihres Gemahls mit Gefolge zurück und überließ den Lords und dem Unterhause die Sorge, in- und ausländische Fragen und Interjectionen wieder für sechs Monate zu besprechen.

Lord Palmerston.

Und nun nur noch einige Worte über die Stunde, die ich im Vogelbauer des Unterhauses zubrachte, um zu sehen, wie sie in ihren Nächten tagen. Das Unterhaus hat architektonisch und ökonomisch mehr Gebrechen, als ein Pferd im Vieharzneibuche, auf dem alle Krankheiten deutlich ausgeprägt sind. Unten Sibirien, zu Häupten Sahara. Viel „Zug“ und keine „Ventilation.“ Sehr hoch, aber zu klein. In der Restauration theurer Wein und nicht alle Abende ein reines Tischtuch. Aber alle diese Gebrechen sind nichts gegen den „Vogelbauer,“ eine enge Gallerie mit Gucklöchern für 100 Personen d. h. für das ganze englische Volk, das hier angeblich vertreten wird. Es ist hier in der That mehr verdrängt als vertreten. Der Bau beweist, daß die, welche innerhalb der Verfassungsfestung sich ummauert haben, gar keine Lust spüren, die Millionen außerhalb hineinzulassen. Freilich sie haben draußen viel Arbeit und öffentliche Meinung und freie Presse und keine Gewerberäthe, und Polizei und Soldaten ohne Waffen. Und das ist mehr werth, als alle sechs Jahre eine Stimme und alle Tage einen Polizeisäbel vor der Nase. Doch halt, ich bin im Vogelbauer! Was sah ich nun von da oben? Wie die Herren auf ihren Bänken spärlich umher lagen oder saßen, mit und ohne Hut, in allen möglichen unanständigen Positionen, plaudernd, schlafend, gehend und kommend. Papiere empfangend, vertheilend, und zerknitternd; wie sie Apfelsinen schälten, hineinbissen und mit den Schalen einen Kollegen vor oder hinter sich bombardirten, der seinerseits mit Papier oder Apfelstückchen das Feuer erwiederte; wie Einer den schlafenden Nachbar unter der Nase kitzelte und nun bersten wollte vor Lachen, als der Aufgewachte einen ganz Unschuldigen bedrohte: wie sie sich von dem großen grünen Ministertische Bücher holten oder dieselben hinwarfen, daß es durch die ganze Halle dröhnte; wie bei alle dem Treiben immer Einer dastand und eine Rede hielt und „der Sprecher“ in seiner lang überhängenden Perrücke fortwährend sehr würdevoll auszusehen suchte und unter einem solchen Ungethüm von weißen Haarlocken in meinen Augen immer komischer, immer fabelhafter, immer unmöglicher auszusehen anfing; wie Einige immerwährend halblaut plaudernd, manchmal Arm in Arm hinausgingen und immerwährend Andere wieder hereinkamen, wie der Redner ununterbrochen unterbrochen ward und sich doch gar nichts daraus machte, wie die „reporters“ und Stenographen in ihrem Winkel die Ohren spitzten und das Wenigste verstehen zu können schienen: wie – nun ich denke es ist genug. So sah’s im Unterhause aus, wenigstens als ich im „Vogelbauer“ war. Freilich hat es seinen Haken. Es war eine „langweilige“ Sitzung ex officio, eine gleichsam vorher und amtlich zur Langweiligkeit bestimmte Nacht, sonst

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_099.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)