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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

und luftig einzeln in Gärten. Durch die Hinterfenster blicken Wiesen und die Hügel von Highgate und Hamstead, durch die vordern von unten herauf ein unabsehbares Labyrinth von Häusern, Straßen, Thürmen, Eisenbah[nen, Müffen] aus einer ewigen Wolke von Qualm und Dämpfen, wie unterirdischem Getöse: London. Da oben ist’s still und heiter, vornehm und ländlich zugleich. Wer London etwas näher kennt, merkt gleich, daß man etwa 2000 Pfund jährlich haben muß, um hier ein eigenes Haus zu machen, merkt gleich, daß das weder ein Platz für die Aristokratie von Belgrave-Square, noch für die City-Potentaten von Westbourn-Terrace sein kann. Nun, wer kann denn hier wohnen? Die Leitartikelschreiber erster Klasse. Ja, ja, so sieht’s auch aus. Nun erklär’ ich mir auch, warum dort in dem Hause eine Abendgesellschaft Vormittags um elf Uhr so lustig ist. Da die meisten Zeitungen Morgenblätter sind, fällt die meiste Arbeit auf den Abend und die Nacht, so daß für die Abendgesellschaften der Leitartikelschreiber keine Zeit übrig bleibt, als der Morgen, d. h. nach unsern Begriffen, der hohe Mittag. Ein altes Mitglied des Morning-Advertiser versicherte mich, daß, wie Falstaff mit gutem Gewissen behauptete, er wisse nicht, wie das Innere einer Kirche aussähe, er sich auch rühmen könne, niemals einen Tag vor zwölf Uhr Mittags gesehen zu haben.

Die Druckereien, Redactionen und Restaurationen der Zeitungen fallen alle in das Bereich der großen Hauptverkehrsschlagader Londons: Strand und Fleetstreet, bis zum General-Postamte und der Druckerei der Times herauf. Fleetstreet hat für die Literatur- und Literatengeschichte Englands eine Menge klassische Stellen. Da giebt es noch Zimmer in Kneipen, in denen hier Pope, dort Sterne, hier Shakespeare, dort Milton u. s. w. saßen und tranken. Jahrhunderte lang blieben diese „Parlours“ von Bierhäusern „Literaten-Kneipen.“ Und so finden wir auch das heutige Geschlecht noch alle Nächte in diesen Regionen discutiren, rauchen und trinken. Die eine Hauptdisputirhalle ist die Taverne zum grünen Drachen in Fleetstreet, die andere etwas weiter oben in einer Nebenstraße. Hier werden alle Abende um neun Uhr Discussionen über bestimmte Themata eröffnet und bis zwölf Uhr von verschiedenen Rednern durchgesprochen, so daß sich aus dem Ganzen verschiedene Leitartikel sehr leicht combiniren lassen. Nach zwölf Uhr gehen die Fremden (jeder kann ohne Ausnahme theilnehmen und mitreden) nach Hause. Nun setzen sich die Hauptredner, Alles Schriftsteller, dichter zusammen, zeigen, daß sie etwas „vortragen“ können, genießen verschiedene Spirituosa mit Zucker und heißem Wasser und dabei sich und das Leben. Und was können sie vertragen! Um nicht vom materiellen Spiritus zu viel Aufhebens zu machen, wie können die Geister, die sich vorher in ihren Reden so bitter herunterrissen, jetzt als Brüder einmüthig mit einander trinken! Da seht, dacht’ ich immer, das ist die Macht und Gewohnheit der freien Versammlung und Rede, die allgemein anerkannte Ehrfurcht vor dem Rechte des freien Wortes, der Bildung überhaupt. In Deutschland, dacht’ ich mir, würden die Redner sich zuletzt schießen oder schlagen, oder die eine Partei die andere hinauswerfen und dann in einem Vereine für sich zusammenkommen. Kurz, in Deutschland ginge das nicht, wenn’s inzwischen im Stillen nicht besser geworden sein sollte.

Man trinkt, scherzt, schraubt sich bis zwei, drei, vier Uhr Morgens und sammelt dann zu Hause Kräfte für den Nachmittag und Abend des folgenden Tages. Man ist gemüthlich und witzig, wozu die Eigenthümlichkeiten des englischen, schottischen und besonders irländischen Charakters unnrschöpflichen Stoff liefern.

In den Nachtkaffeehäusern um den Strand herum, geht’s etwas wilder und dramatischer zu. Es sind Zeitungsschreiber-Börsen, wo man mitten aus einem Leitartikel heraus, zu dem man noch kein sicheres Ende finden kann, hinüberspringt, um zu hören, ob sich auch in dem Thema nichts geändert habe, und dazu etwas kalte oder warme Küche und Flüssigkeit zu genießen, die letzten Ernten „penny-a-liners“ (die Stadtneuigkeiten, Mordthaten, Beinbrüche, interessante Arretirungen u. s. w. zusammenjagen und an die Zeitungen, 1 Penny die Zeile, verkaufen) in Empfang nehmen, Vacanzen an der Zeitung aus der Menge disponibler Individuen auszufüllen und sich überhaupt scharf umzusehen, ehe die Redaction geschlossen und die letzten Stellen des Blattes gefüllt werden, ob nicht noch eine telegraphische Depesche oder sonst eine wichtige Neuigkeit gekommen sei oder kommen könne. Während des Parlaments, das immer des Nachts tagt, während großer Versammlungen in London oder einer Provinzialstadt, aus welcher dann stenographische Berichte oder electrische Zuckungen bis zum letzten möglichen Augenblick herbeifliegen und noch gesetzt, gedruckt, corrigirt und eingeschoben werden müssen, ehe der ganze Satz von der ungeduldig brüllenden Dampfmaschine gepackt und in drei bis vier Stunden in 20,000 und mehr Exemplaren abgezogen wird; während dieser letzten Stunden und Minuten der Redactionen nehmen die Lokale und die Kaffeehäuser d’rum herum eine Physiognomie an, wie die letzten Scenen des letzten Aktes eines großen Drama’s oder die Umgebung eines Feldherrn, der seine Befehle im entscheidenden Momente nach allen Selten hinfliegen läßt, während er von allen Seiten jede Minute Nachrichten bekömmt. In der That ist auch der Hauptredacteur in solchen Momenten der Feldherr über Tausende von Gutenberg’s Truppen und über Hunderte von Schriftsteller-, Setzer- und Druckeroffizieren. Alle Manipulationen bekommen dann auch eine militärische Strenge und Pünktlichkeit. Wort und That folgen wie Blitz und Schlag auf einander. Jeder fliegt, ohne rechts und links zu sehen, athemlos auf einen bestimmten Punkt hin. Trepp’ auf, Trepp’ ab mit Stückchen Papier, gesetzten Compagnien von Typen, Aufträgen und Befehlen. Die Setzer schlagen wie Wahnsinnige mit den Armen umher. Man kann nicht so schnell sehen, als sie ihre Typen aus den Fächern zusammenwerfen. Da, er ist fertig mit seinem zerschnittenen Streifen. Ohne sich umzusehen, wirft er den Satz in die lauernden Arme eines Jungen, der zu einem zweiten und dritten Setzer eilt, bis das ganze gesetzte Manuscript auch zusammengeschoben, abgezogen und corrigirt ist und dann in die große Form gezwängt werden kann. – Endlich donnert eine ungeheuere Kette durch alle Stockwerke, an welcher die großen Formen hinunterrasseln in den Maschinenraum unten, in welchem phantastische Gestalten mit Papiermützen auf dem Kopfe, von grellen kleinen Lampen beschienen, hin- und herlaufen.

Nach dieser, durch das ganze Haus mit Freuden begrüßten knarrenden Arbeit der großen Flaschenzugkette, erfolgt ein allgemeines Rockanziehen, Hutaufsetzen und Davonlaufen, entweder nach Hause, oder zunächst in ein Nachtkaffeehaus, die überall umher noch wachen. Dort wird’s nun lustig. Man ist nach der Aufregung des Geschäfts so sehr geneigt, aufzuathmen, sich zu erholen und in eine angenehme Stimmung zu versetzen. Also man ißt und trinkt zu dem Geklimper einer Guitarre und ladet wohl auch eine der schönen Nachtwandlerinnen ein, die sich zu diesem Zwecke schon eingefunden haben und auf eine ziemlich graziöse Weise die gewissenlose Heiterkeit „Londons bei Nacht“ repräsentiren. Zuletzt scheint es dann in diesem Falle der Anstand zu gebieten, die Grazie, welche die Freuden der Tafel erhöhte, nach Hause bis vor die Thür zu begleiten, damit sie in der Nacht, die keines Menschen Freund ist, keinen Schaden nehme.

Im Ganzen genommen arbeitet der englische Schriftsteller ungemein viel. Von zwölf oder zwei Uhr Mittags bis Nachts zwei, drei und vier Uhr ist der Zeitungsschreiber „im Dienste.“ Die in Fleetstreet sind größtentheils Redacteurs und Mitarbeiter von Wochenzeitungen und wissenschaftlichen oder Unterhaltungsblättern, welche deshalb die Abende und Nächte ruhiger genießen können.

Um noch ein Wort über die Autoren von Büchern zu sagen, müssen wir gestehen, daß sich nicht viel über sie sagen läßt. Sie treten nicht als Masse zusammen auf, wie die Zeitungsschreiber, und halten sich im Uebrigen, wie jeder Engländer, verschlossen, um sich nur in ihren gewählten Kreisen zu bewegen. Ihr Hauptvereinigungspunkt ist die große Bibliothek und Lesehalle in St. James-Square, wo jedes Mitglied zehn Guineen Eintrittsgeld und sechs Guineen Jahresbeitrag zahlt. Sie ist einer der glänzendsten Brennpunkte der englischen Literatur, wo auch die deutsche am Vollständigsten vertreten ist. Von der bürgerlichen, häuslichen Persönlichkeit seiner Schriftsteller weiß England im Ganzen vielleicht eben so wenig, als Deutschland. Daß ich Bulwer, Thackerry, Jerry Douglas, Dickens und Charles Lever im Verlaufe von Jahren zufällig einmal oder einige Mal gesehen habe, kann mich nicht zu einer Schilderung derselben berechtigen. Doch läßt sich wenigstens sagen, wie sie aussehen. Bulwer ist ein langer, feiner, schmalbäckig, langbeinig und hochmüthig aussehender geleckter Stutzer mit Ringen und Nadeln. Er macht den Eindruck, als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_123.jpg&oldid=- (Version vom 21.4.2020)