Seite:Die Gartenlaube (1854) 170.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

vom Heimweh, die er gelesen, ließen ihm ahnen, daß auch in seinem Gemüthe diese böse Krankheit im Anzuge sei.

Am folgenden Mittage speiste er beim ersten Bürgermeister der Stadt. Als er um die bestimmte Stunde dort eintrat, traf er noch drei Genossen, die gleichfalls Freitisch hier hatten, aber schon längere Zeit auf der Schule waren und den angehenden Tertianer mit einer gewissen Herablassung betrachteten. Da der Schule halber im Allgemeinen die größte Pünktlichkeit erforderlich war, so stand auch heute der Tisch gedeckt, und mit dem Glockenschlage trat der Bürgermeister ein und die Familie setzte sich. – Die Knaben zeigten trefflichen Appetit, und man reichte ihnen so viel sie mochten, wobei man zugleich dann und wann ein Wort der Unterhaltung versuchte, das aber einen spärlichen Boden fand. – Nach beendigtem Mahle faltete jeder Schüler seine Serviette zusammen und steckte sie in einen Ring, der ihm eigen gehörte. Auch August Liebig erhielt einen solchen, und – wurde damit der kleinen Gesellschaft einverleibt. – Sie standen dann auf und so wie die Andern sich verbeugten, verbeugte auch er sich und schritt der Thüre zu; da wurde er aber gewahr, daß die Frau Bürgermeisterin vom Büffet verschiedene kleine Päckchen nahm und jedem Knaben ein solches in die Hand gab. Er zögerte nun, um auch an sich die Reihe kommen zu lassen, weil er glaubte, daß das so in der Ordnung sei. – Mit diesem Päckchen zog er nun von dannen und erst als er in seinem Zimmer angekommen war, öffnete er dasselbe und musterte neugierig den Inhalt. Zu seinem großen Erstaunen enthielt es nur geschnittene Butterbemmen. – Als ihm Riekchen später auf der Treppe begegnete, fragte er diese, wie die Frau Bürgermeisterin dazu komme, ihm dieselben mitzugeben. Das Mädchen lächelte.

„Das ist einmal so Sitte hier, und die Bemmen werden Ihnen ganz gut schmecken, lieber August.“

Am nächsten Tage widerfuhr ihm dasselbe, und so wieder am nächsten und er sah wohl, daß er sich an diese Einrichtung gewöhnen müsse, die überdem seiner Kasse zu gut kam; nur daß ein Etwas in seiner Natur sich dagegen sträubte, er wußte selbst nicht warum. – Jedesmal, wenn die Dame vom Hause ihm das Päckchen hinhielt, ergriff er es verlegen mit dem Gefühl einer Beschämung, zu der doch scheinbar kein Grund vorhanden war.

Der Sommer verging und auch der Winter, und erst nach Ablauf eines Jahres durfte August als Unter-Secundaner in das älterliche Haus zurückkehren. Viele Nächte zuvor kam kein Schlaf in seine Augen, und als er nun gar den rothen geraden Thurm erblickte, der so hoch und hehr über die kleine Stadt hervorragte, da jubelte sein Herz so laut vor Freude, daß es in seinem ungestümen Pochen zu zerspringen drohte. – Gepäck und Alles ließ er zurück und eilte mit Sturmesschritten dem älterlichen Hause zu. Bleich vor Freude und innerer Bewegung hieß ihn die Mutter mit zitternder Stimme willkommen, und als er sich aus ihren Armen loswand, gewährte er, daß noch Jemand wie ein Schatten hinter ihr stand und sich leise verbarg.

„Leonie!“ rief es in seinem Herzen, und er wollte die Gespielin seiner Jugend stürmisch an sich ziehen. Plötzlich aber hielt er inne, blieb scheu stehen und bot ihr die Hand. Sie war so groß geworden, sie war kein Kind mehr; er hätte sie kaum wiedererkannt. –

„August!“ sagte sie, und sah ihn mit freudestrahlenden Augen an. –

Auch der Präpositus kam jetzt hinzu und lobte den Sohn wegen seiner vortrefflichen Zeugnisse. „Mein Benjamin macht mir Ehre,“ sagte er freundlich und klopfte den hochgewachsenen Sohn auf die Schulter; dann aber stieg er langsam die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, denn er hielt es jetzt nicht lange mehr unten aus, wo ihm Alles zu geräuschvoll war.

(Fortsetzung folgt.)




Von den Ufern der Ostsee.

Schon einmal, in Nr. 35 des vorigen Jahrganges der Gartenlaube, boten uns die russisch-türkischen Verwickelungen, wie man damals, wo noch kein Schuß gefallen war, noch sagen konnte, Anlaß, die Blicke der Leser von der Donau weg nach der Ostsee zu lenken. Wir wiesen beim etwaigen Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland und den Westmächten auf die Wichtigkeit des Sundes und der Ostsee hin, wo wie im schwarzen Meere die Küsten Rußlands den Angriffen seiner überlegenen Feinde zur See ausgesetzt blieben. Seitdem sind sechs Monate verflossen, während welcher sich die europäischen Großmächte, wenn auch mit Widerwillen, Woche um Woche dem Kampfe näher zugedrängt sahen, und heute endlich segelt eine englische Flotte, mächtiger als je eine vorher die Küsten Englands verließ, in der Ostsee. Ein neuer Schauplatz eröffnet sich damit für unsere bildlichen Darstellungen aus der Tagesgeschichte, ein Schauplatz, von welchem her bald blutige Nachrichten zu uns gelangen dürften, da dort die englische Flotte von einem Manne befehligt wird, dessen Auftreten bei früheren Anlässen zeigte, daß er kein langes „Federlesen“ macht.

Aus der Reihe der von den Engländern zunächst bedrohten Städte führen wir heute unsern Lesern Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, vor, das wie sämmtliche an die Ostsee grenzenden russischen Provinzen durch kürzlich erschienene kaiserliche Ukasen bereits in Kriegszustand versetzt ist. Reval, Helsingfors mit Sweaborg und Kronstadt sind die drei Häfen im finnischen Meerbusen, welche der russischen Kriegsflotte zu Stationen dienen; sie beherrschen dadurch den finnischen Meerbusen, diesen vierzig Meilen langen und 51/2 bis 44 Meilen breiten Seearm, die Wasserstraße aus der Ostsee nach St. Petersburg.

Durch seine Lage der Ostsee am Nächsten gerückt und dadurch auch früher vom Eise befreit als die weiter rückwärts im finnischen Meerbusen gelegenen Kriegshäfen, dürfte Reval einem ersten Angriff der englischen Flotte ausgesetzt sein. An einem schnellen Handeln Admiral Napier’s ist dabei nicht zu zweifeln, indem es für ihn von Wichtigkeit ist, die Vereinigung der in Reval, Sweaborg und Kronstadt vertheilt liegenden russischen Kriegsflotte, die dann keinen zu verachtenden Gegner bilden würde, zu verhindern. Wie die von dem in Reval commandirenden russischen General Berg getroffenen Maßregeln beurkunden, macht man sich auf einen solchen Angriff gefaßt; alle Festungswerke sind vollständig auf den Kriegsfuß gestellt, die Beleuchtung der Leuchthürme findet nicht mehr statt. Vorkehrungen zum Löschen im Fall eines Bombardements werden bereits getroffen und viele Einwohner denken wohl schon selbst an Flucht aus der bedrohten Stadt in das Innere des Landes.

Die anderthalbtausend Feuerschlünde, welche Napier mit sich führt, sind allerdings keine erfreuliche Aussicht, allein damit ist noch immer nicht gesagt, daß ein Angriff auf Reval ein ganz leichtes Stück Arbeit sei. Die Stadt ist mit gewaltigen Festungswerken versehen, große kasemattirte Batterien decken den Hafen, vor dem sich im Meere die berühmten Kesselbatterien befinden, und mörderische Kreuzfeuer erwarten den kühnen Angreifer. Die ebenfalls vor dem Hafen liegende Insel Nargö ist mit besondern Vertheidigungswerken versehen, die das Annähern feindlicher Flotten noch mehr erschweren.

Ungleich stärker noch als Reval ist das ihm acht Meilen weiter nördlich gegenüberliegende Sweaborg, mit Recht das nordische Gibraltar genannt, welches den Hafen von Helfingfors deckt. Die in Felsen gehauenen oder von Granit-Quadern gebauten und meist kasemattirten Batterien der Festung Sweaborg umfassen sieben kleine Inseln. Diese Werke enthalten zwei bis drei Reihen Kanonen übereinander, im Ganzen zusammen 2000 Stück Geschütz. Der von den Schweden, die damals noch Herren Finnlands waren, 1748 unternommene Bau erforderte zehn Jahre, und Sweaborg galt für unüberwindlich. Gleichwohl fiel es 1808 nach kurzer Belagerung

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_170.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2019)