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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

in die Hände der Russen, so daß man, in Anbetracht der Stärke der Festung, sich nicht des Gedankens an einen Verrath Seitens des schwedischen Commandanten Kronstedt erwehren kann.

Um auf Reval zurückzukommen, so dürften seine, wenn auch im Vergleich zu Sweaborg schwächern, so doch immer noch starken Festungswerke zuletzt gleichwohl nicht hinreichen, Reval vor dem Schicksale Sinope’s zu schützen, und ihm einen jener harten Schläge zu versetzen, unter denen es schon mehrmals in frühern Kriegen empfindlich gelitten hat. In seiner höchsten Blüthe stand Reval zur Zeit als die deutsche Hansa, der es angehörte, in den nordischen Wässern ihre unbestrittene Macht übte; jetzt beträgt die inzwischen wieder gestiegene Zahl der Einwohner etwa 24,000, die sich meistens vom Handel nähren, da Reval noch immer einer der bedeutendsten Handelsplätze der russischen Ostseeküsten ist. Esthland, obwohl nicht zum Besten angebaut, liefert dennoch einen bedeutenden Ueberschuß von Landesproducten, namentlich Getreide, das über Reval ausgeführt wird. Die Einwohner gehören den verschiedenen Nationen an, unter deren Herrschaft Reval wechselsweise stand. Der Großhandel (und die Großhändler spielen in Reval die erste Rolle) ist in den Händen der Deutschen und Schweden; den Kern des Handwerkerstandes bilden ebenfalls Deutsche und Schweden nebst Dänen; die Stammbewohner des Landes, die Esthen machen die niedrigsten Schichten der Bevölkerung aus; das russische Element, stark durch das Beamtenthum, findet sich endlich in allen Schichten vor.

Reval.

Angesichts der Ereignisse, die sich in der Ostsee vorbereiten, und die uns noch öfter Gelegenheit bieten dürften, unsere Leser an die Gestade derselben zu versetzen, halten wir einige kurze Notizen über die russischen Ostseeprovinzen nicht für überflüssig. Man begreift darunter Kurland, Livland und Esthland, die jetzt jedes ein russisches Gouvernement bilden, und zusammen an Flächenraum etwa den drei deutschen Königreichen Baiern, Sachsen und Würtemberg gleich kommen, dabei aber nur eine Bevölkerung von höchstens 2 Millionen Seelen zählen.

Das Schicksal dieser drei Provinzen war von Alters her ziemlich ein gemeinsames. Bremer Kaufleute besuchten im zwölften Jahrhunderte zuerst diese Gegenden, ihnen folgten die Dänen, welche das Land eroberten und der Bevölkerung den christlichen Glauben aufzwangen. Im 13. Jahrhundert, wo die deutschen Ordensritter sämmtliche baltische Länder besaßen, erwarben sie durch Kauf die ein Jahrhundert früher von Dänemark gemachten Eroberungen und nahmen ihre sämmtlichen Besitzungen, Kurland, Livland und Esthland inbegriffen, vom Kaiser und Reich in Lehen. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an begannen die Angriffe der Russen auf die Ostseeländer, die Macht des deutschen Ordens war gebrochen, und die bedrängten Völker wandten sich um Schutz an Schweden, das auch die Herrschaft antrat, bis von Peter den Großen an die Vereinigung mit Rußland bewerkstelligt wurde.

Im Jahre 1848, wo so viel von einem einigen großen und freien Deutschland gesprochen und geträumt wurde, tauchte in einzelnen Köpfen wohl auch der Gedanke auf, die Grenzen des deutschen Reichs müßten am finnischen Meerbusen sein. War doch das Land einmal von Kaiser und Reich in Lehen gegeben worden, hatten doch Reval und Riga zur deutschen Hansa gehört! Und richtig ist es auch, daß die russischen Ostseeprovinzen seit Jahrhunderten durch deutsche Kultur und Wissenschaft im Verbande mit Reval der civilisirten Welt erhalten blieben, daß Alles was dort von Bildung vorhanden ist, deutsch ist, daß die Städte wesentlich deutsche Elemente in sich schließen, und der Grundbesitz fast ganz in Händen deutscher Familien ist.

Dies ist Alles richtig, allein als wirklich deutsche Länder möchten diese Provinzen darum nicht zu betrachten sein, da eigentlich nur die wohlhabendern Klassen und der Adel deutschen Ursprungs sind. Letzterer, der das Land eroberte, ist auch einziger Grundbesitzer, und hat seine Bauern zumeist in Zuständen zu erhalten gewußt, gegen welche die in Pommern bestehenden noch sehr erfreuliche genannt werden können. Unter den deutschen Bewohnern der Städte herrscht hinwiederum im Durchschnitt jener Zopfgeist, wie wir ihm bei den Spießbürgern ehemaliger deutscher Reichsstädte so häufig begegnen. Kurz, die Ostseeprovinzen sind in ihrem Kulturgange hinter Deutschland so gewaltig zurückgeblieben, daß das Band nationaler Sympathien zwischen beiden zerrissen ist, und so wenig als man in Deutschland ernstliche Gelüste nach jenen Provinzen irgendwie verspürt, ebensowenig sehnen diese sich nach dem Verbande mit Deutschland; Kurland hängt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_171.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)