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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Nein, mein Freund!“ sprach sie mit Ihrer hellen, klangreichen Stimme, stand auf, lehnte sich über ihn und drückte sein Haupt, wie beruhigend, an ihre Brust. – „Ich sehe ein, daß Du nicht anders kannst. Der Mensch macht seine Gesinnung nicht, und auch nicht seinen Glauben; die Umstände und das Leben entwickeln Beides in ihm und er muß hinnehmen, was sie ihm bringen. Deine Ueberzeugung soll Dir heilig sein. Folge ihr! Ich liebe Dich darum erst recht, auch getrennt, auch noch so ferne von Dir, selbst über das Grab hinaus. Glaubst Du denn, daß Du nur darum für mich Werth hattest, weil ich einst Amt und Brot mit Dir zu theilen gedachte? Nein, August, so klein darfst Du von mir nicht denken! Das Bild meines Aelternhauses schützt mich auf ewig davor, eine Existenz hinzunehmen, die nicht die höchste Gesinnung begleitet. Ich will Dich achten können, August; ich will Deinen Menschenwerth durch nichts verringert sehen, sei es, was es sei, und mag Dir sonst begegnen, was da will, mag ich Dich nie wiedersehen, immer noch werde ich das Glück im Herzen tragen, das Ideal meiner Jugend rein mir zu bewahren.“

Eine Thräne rollte über seine Wange; sie küßte sie hinweg. Schweigend verharrten sie noch einige Minuten in dieser Stellung, wie in dem Bedürfniß des Ausruhens von der starken, innern Bewegung, dann sagte Leonie sanft in sein Ohr: „Ich will jetzt unsere Mutter suchen. Sie darf nicht wissen, was ich zu Dir gesprochen; ihr Lebensabend darf nur die Hoffnungen kennen, die sie während so vieler Jahre mit Opfern und Entbehrungen für unsere Zukunft aufgebaut, und deren gänzliche Zertrümmerung sie nicht ertragen könnte. Laß uns daher vorsichtig sein.“

Sie entfernte sich und bald darauf kehrten Beide Hand in Hand zurück. Augusten’s Augen schienen noch vom Weinen geröthet, sonst aber war sie still und sanft und betrachtete den Sohn mit einer Art mitleidsvoller Zärtlichkeit, die ihr sonst nicht eigen gewesen. Was ihr nie zuvor in den Sinn gekommen, war ihr in dieser Stunde mit fürchterlicher Klarheit vor die Seele getreten: sie und nur sie allein trug ja die ganze Schuld an ihres Sohnes Unglück; denn nie hatte sie ihn gefragt, nie seine Neigung zu Rath gezogen, sondern einfach angenommen, daß der Beruf, welcher ihm am Schnellsten und Leichtesten zu einer Versorgung helfe, auch der ihm gemäße sein müsse. Sie erkannte ihr Versehen, und das brach ihr das Herz. Sie fühlte von dieser Minute an, daß ihre Tage gezählt seien, sie fühlte ihren Lebensmuth gebrochen, sie war innerlich wie geknickt, und keinen Trost gab es für solches Leid, keine Heilung für solche Wunde. Sie war freundlich wie immer, aber still und in sich gekehrt und man sah ihr an, daß ihr Interesse wenig Antheil noch an den Dingen dieser Welt nahm.

August war diesmal bis jetzt noch nicht zu Leonie’s Mutter gegangen, die er seit dem ihm gewordenen Empfang bei seinem letzten Besuche nicht wieder gesehen hatte. Am Tage vor seiner Abreise sandte sie nun plötzlich und ließ ihn zu sich entbieten. Er konnte dieser Aufforderung kein Weigern entgegensetzen und ging. Sie war allein und zwar im Bette. Er fand sie sehr verändert. Sie bat ihn, die Thüre zu verschließen und neben ihrem Lager Platz zu nehmen.

„Herr Liebig,“ begann sie nun, „,meine Lebenstage sind gezählt, bald werde ich in jener Welt mit meinem unvergeßlichen Gatten vereint wandeln.“ Sie konnte vor Rührung nicht weiter sprechen, und erst, nachdem sie sich wieder gefaßt, fuhr sie fort: „Ich habe mit dieser Welt abgeschlossen, und nur eine Angelegenheit bleibt mir noch zu ordnen, die Versorgung meines Kindes. Ich darf ihrem Vater nicht unter die Augen treten, wenn ich sie hier arm und unbeschützt zurücklasse. Thun Sie mir also den Gefallen und geben Sie sie auf, dann heirathet sie Ihren Bruder. Niemand hat erfahren, welche Hoffnungen Sie hegen; der junge Pastor wird also keinen Anstoß nehmen, seine Bewerbung zu erneuern, sobald ich ihn dazu ermuntere. Einer Sterbenden dürfen Sie keine Bitte abschlagen. Sagen Sie ja!“

(Schluß folgt.) 




Das Staatsgefängniß Mazas in Paris.[1]

Flanirt man in Paris südwärts nach den Quais, so ist es leicht möglich, dort einen vergitterten Omnibus zu treffen, welchem zwei mobile Gensd’armen zu Pferde folgen. Dies ist an und für sich schon ein auffallendes Ereigniß; für den Fremden aber noch mehr, da er die Bestimmung dieses fahrenden Käfigs nicht kennt. Doch auch der Einheimische, der Pariser, bleibt neugierig stehen; denn – es ist der Omnibus Mazas.

Mit einem Wort, ein eiserner Zellenwagen, in welchem die Gefangenen transportirt werden. Es hat darin ein Jeder anderthalb Quadratfuß Zelle, gerade so viel, um auf einem Brett sitzen zu können und sich die Knieen wund zu stoßen. Statt der Fenster sind es eiserne Jalousien, als wenn ein neugieriger Blick des Vorübergehenden so furchtbar wäre!

Von dem Augenblicke an, wo der Gefangene in diesem modernen Vehikel Platz genommen, hat er auf die Welt nicht eher wieder Anspruch, als bis er frei ist. Von diesem Augenblicke an ist er Maschine, Werkzeug, Gegenstand, – über welchen nur ein Gericht sitzt, das ihn verdammt oder wieder Mensch werden läßt – Der Gefangene wird pensylvanischer Bewohner.

Jetzt hält der Zellenwagen, gegenüber dem Lyoner Bahnhof, vor einem aus hartem Mörtel gemauerten Gebäude von langer, strahlenförmiger Ausdehnung.

Hier ist das Zellengefängniß Mazas, welches von dem Abbé den Namen führt, der unter Louis Philipp den Plan dazu entwarf.

Das hohe, eisenbeschlagene Thor öffnet sich knarrend und der Wagen holpert, die Wache vorbei, in den Hof, wo ihn der Inspector und die Kerkermeister empfangen. Mit dem Thore, welchen sich jetzt dröhnend wieder schließt, wird die ganze Welt für den Gefangenen abgeschlossen; es ist der Sargdeckel, welcher auf das letzte Kastengestell geworfen wird und was ihn jetzt erwartet, ist ein lebendiges Grab.

Einzeln steigt der Mann aus dem Zellenwagen, wird in den breiten, hellen Corridor geführt und in eine sogenannte Wartezelle gebracht. Das System der Einsamkeit beginnt und der Gefangene sieht Niemanden mehr als seinen Wärter. Das christliche Werk des Abbé Mazas macht den Menschen hier wider Willen zum Eremiten. Man hätte dies Gebäude auch das Kloster Eremitage sans volonté taufen können.

Er tritt darauf durch einen Irrgang in das Bureau des Zellenhauses, wo er seine Arme entblößt und der Schreiber ein genaues Signalement von ihm aufnimmt. Dann kehrt er in den ersten Corridor zurück und vor einer Glasrotunde, welche die sechs immensen Flügel dieser Einsiedelei beherrscht, giebt man ihm eine Nummer.

Der Gefangene sagt der Welt nun vollends Lebewohl, denn er hat jetzt nur noch eine Nummer, wie ein Bild im Museum; nur mit dem Unterschiede, daß man ein Bild höher schätzt, als einen nummerirten Gefangenen. Dennoch sind alle diese Nummerirten nur erst Verdächtige, meist leichte Verbrecher oder politisch Gravirte, welche erst verurtheilt werden sollen; denn in Mazas sitzt kein Verurtheilter, nur erst der Inkulpat.

Der Unglückliche hat nun also seine Nummer. Man schickt ihn im Trabe nach seiner Abtheilung, das heißt, nach einem von den sechs Flügeln. Ein Wärter empfängt ihn und führt ihn in eine Badezelle, um den Menschenschmutz hier in die Seine fließen zu lassen und wo möglich auch die Seele auszuwaschen, obgleich das jetzt vollkommene Nebensache wäre. Das wird Jedem selbst überlassen. – Man führt ihn alsdann endlich nach seiner Zelle, ohne daß er nur einen Menschen gesehen hat. Der Riegel schließt sich auch hier, um der neuen Nummer ihren engeren Wirkungskreis zu überlassen.

Dieser für das Wohl der Nummer berechnete Aufenthalt ist


  1. Durch die vielen politischen Gefangenen, welche seit dem Staatsstreich des Kaisers von Frankreich in diesem Gefängniß verweilten, hat dasselbe eine traurige Berühmtheit erlangt. Die Schilderung des traurigen Ortes dürfte deßhalb nicht ohne Interesse für unsere Leser sein.
    Die Redaktion. 
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_194.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)