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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 21. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

 Die Zahlen.

 Ein Comptoir-Spuk.

Das große Hauptbuch vor mir aufgeschlagen,
Saß ich am Pult bis in die tiefe Nacht,
Um Legionen Zahlen einzutragen.
Die schier bis zur Verzweiflung mich gebracht.
Gerechnet hatt‘ ich und gerechnet wieder
Die langen Ziffernsäulen auf und nieder;
Mein Kopf war wirr und wüst von all’ den Zahlen.
Und ingrimmsvoll verwünscht’ ich diese Qualen.

Da draußen spielte in den Blüthenbäumen
Mit leisem Hauch die laue Lenzeslust;
Mich zog’s hinaus, im Waldesgrün zu träumen,
Zu baden meine Brust im süßen Duft.
Doch angekettet saß ich, schwarze Zahlen
Auf weißem Grunde mühsam hinzumalen,
Und eh’ in’s Reine Alles ich gebracht,
Befiel mich über meinem Werk die Nacht.

Da stampft’ ich wild die Feder auf das Pult,
Und rief im raschen Zorn der Ungeduld:
„Verflucht seid ihr, verflucht zu tausend Malen!
Ich wünschte in der Hölle sie zu sehn,
Die schwarzen Quäler alle, diese Zahlen, –
Zusammt den Büchern all’, darin sie steh’n!“

Und schwerer wurden meine Augenlider,
Und deckten mir die trüben Augen zu;
Mein müdes Haupt sank auf die Brust hernieder,
Und legte auf dem Hauptbuch sich zur Ruh’. –

So war ich denn in tiefen Schlaf begraben
– Der träge Geist erlag dem schwachen Fleisch –,
Und lange mocht’ ich schon geschlummert haben:
Da weckte mich ein sonderbar Geräusch.
Ich fuhr empor; – das Hauptbuch war verschwunden,
Auf dem ich ein so süßes Bett gefunden,
Und bei dem Mondlicht, welches hell und klar
Erleuchtete das ganze Comptoir,
Blickt’ ich umher, es forschend zu erspäh’n. –
Und sah es endlich mitten in dem Zimmer,
Beleuchtet von des Mondscheins blassem Schimmer
Auf einem Stuhle aufgerichtet steh’n;
Und voll Erstaunen sah ich und voll Schrecken
Aufklappen sich die schweren Pappendecken,
Und aus den hin- und herbewegten Blättern
Erklang ein seltsam Rauschen, Stöhnen, Schmettern.
Die Töne wurden klarer, immer klarer,
Und deutlich hört’ ich endlich das Geschrei:
„Herbei, der Zahlen treuliche Bewahrer!
Herbei, ihr Bücher alle, kommt herbei!“

Da regt es plötzlich sich in dem Gemache,
Da ward’s lebendig flugs in jedem Schrein;
Sie krochen, schlichen, hüpften aus dem Fache,
Die Handlungsbücher alle, groß und klein.
Journal und Cassa-Buch und Prima-Note,
Das Waarenbuch, die Strazzen, hoch und schmal,
Sie standen schnell dem Rufe zu Gebote,
Und schaarten sich um ihren General.
Der aber sprach mit gravität’schen Mienen:
„Ich rief euch her als euer Präsident;
Gehorsam meinem Wort seid ihr erschienen;
Constituirt euch nun als Parlament! –
Der Fall, den ich euch vorzutragen habe,
Betrifft den Menschen, der da sitzt am Pult,
Und während er dort schläft, als wie im Grabe,
Beschließen wir die Strafe seiner Schuld.
Er, der uns dienen sollt’ als treuer Wächter,
Er zeigt sich uns als Frevler und Verächter,
Hat uns verflucht, uns alle auf einmal,
Und unser Lebenselement, – die Zahl!
So laßt uns jetzt zum Rathe uns vereinen,
Wie wir ihn strafen, der sich das erfrecht!
Mylords und ihr vom Hause der Gemeinen,
Sagt, wie man solchen schnöden Frevel rächt!“

Da raschelten die Blätter durcheinander,
Da rauscht’ und zischt’ und heult’ es rings wie toll;
Der Präsident, auch nicht ein Wort verstand er,
Bis erst sein Ruf: „Zur Ordnung!“ laut erscholl.
Die Strazzen näselten: „Wir woll’n ihn quälen!
Aus unserm Wirwarr werd’ er nimmer klug!“
Das Cassa-Buch schrie wüthend: „Stets soll fehlen!
Die Cassa stimme niemals mit dem Buch!“
Dazwischen rief das Waarenbuch, das dicke,
Im tiefsten Basse aus: „Ich meine sehr,
Wir stürzen Alle über ihn uns her,
Und brechen dem Verräther das Genicke!“
Das Hauptbuch aber sprach mit argem Hohne:
„Ich bin dafür, daß man ihn jetzt noch schone;
Doch wenn dereinstens er beim Jahresschluß
Nach soviel durchgerechnet schweren Tagen
Nun die Bilanz des Ganzen ziehen muß,
Dann überlaßt es mir, ihn abzuplagen!
Dann soll ein Groschen hier im Debet fehlen,
Und dort zuviel ein Tausend Thaler steh’n.
Und wie er sich auch immer möge quälen,
Er soll es nimmer richtig stimmen seh’n!
Da soll er Stunden, Tage, Wochen suchen,
Und immer neue Fehler finden nur.
Und kommt er nie dem letzten auf die Spur.
Verzweiflungsvoll sich selber dann verfluchen!“

Ein Beifallssturm brach los bei diesen Worten;
„Bravo! Bravo!“ – so rief’s aus einem Mund,
Ich aber war jetzt munter ganz geworden,
Und nunmehr ward mir’s endlich doch zu bunt.
Ich faßte mir ein Herz; mit einem Satze
Sprang ich von meinem Bocke schnell empor,
Ergriff die äußerste Notizen-Strazze
Und schleuderte sie in den dichten Chor.
„Was?“ – rief ich aus – „Wie könnt ihr euch erfrechen,
In schnöden Aufruhrs tollem Uebermuth
Von Richten und von Strafen hier zu sprechen?
Legt euch zur Ruh’, und schweigt, verdammte Brut!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 237b. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_237b.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)