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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Affect des Vaters, den Wuth- und Racheausdruck mit einem wahren Entzücken mit.

Auch diese Gabe besitzt Wagner in starkem Maße; er weiß die Gefühle und Leidenschaften seiner Personen so natürlich und anschaulich lebendig mit Worten zu zeichnen, daß wir sie mitempfinden und uns in sie versenken müssen.

So kann man von seinen Operntexten sagen: sie sind in Hinsicht der Charaktere schwach, oft psychologisch fehlerhaft, aber in den Situationen und Leidenschaften stark und gehören in letzteren Beziehungen unter die seltensten und allerbesten Opernbücher.

Daß diese beiden letzten Eigenschaften seiner Texte sehr bedeutend sind, kann man aus ihrer Wirkung schließen, da sie in Sagen- und Mythenstoffen erscheinen. Die allermeisten Stücke, in denen übernatürliche Wesen mitwirken, sind für unsere Zeit nur noch läppische Dinge für Kinder. Sie können keine Furcht für die Personen erregen, die wir lieben, denn wir wissen, daß der Zauberer oder die Fee die Gefahr schon zur rechten Zeit mit einer bloßen Handbewegung, oder mit dem Zauberstabe, oder mit irgend einer Beschwörungsformel beseitigen werden. Allerdings wissen wir das auch in Wagner’s Lohengrin. Aber wir kommen vor der wahr und lebendig dargestellten Situation, der Leidenschaft, oder beider zugleich nicht dazu, an jenes zu denken. Und das setzt eine große poetische Dichtungskraft voraus.

Wenn nun aber Wagner und seine Anhänger von einer Reinigung und besseren Richtung in seinen Operntexten sprechen, so kann das nur theilweise zugegeben werden, nämlich hinsichtlich der Situationen und Leidenschaften.

Von einer andern Seite betrachtet, ist er nichts weniger als ein glücklicher Reformator. Hat er etwa den äußeren Spektakel verbannt, und das Drama zu seiner edlen Einfalt zurückgeführt? Keinesweges. Er hat in seinem Rienzi, fliegenden Holländer, Tannhäuser und Lohengrin auf sinnliche Augenweide, blendende Theaterkontraste, Pomp der Aufzüge und Dekoration tüchtig losgearbeitet. Ja, wenn die Nachrichten über sein neuestes dramatisches Gedicht, die Niebelungen, die an drei Abenden hintereinander aufgeführt werden sollen, sich bestätigen, so grenzt das, was er darin an noch nie gesehenem Theaterspektakel aufstellt, an’s Fabelhafte, Unausführbare, und er überbietet also darin alles an Schauprunk bisher auf die Bühne Gebrachte in einer kaum geahneten Uebertreibung. Wer darin eine Reformation der Oper, eine Verbesserung, eine neue glücklichere Richtung der dramatischen Kunst finden will und kann, mit dem, liebe Leser, wollen wir uns in keinen Streit einlassen.

Wagner als Componist.

Man wirft ihm von mancher Seite her Mangel an schaffender Phantasie vor; er arbeite mehr mit dem reflektirenden Verstande. Nun, wenn man damit vieles von Dem, was Wagner in seinen Opern geleistet, leisten kann, so wünsche ich allen künftigen Componisten dieses Vermögen Wagner’s. Die Wahrheit scheint mir, daß er so viel Phantasie hat, wie nur irgend ein Sterblicher jemals gehabt und haben kann. Ach nein! Wenn Euch manches so erscheint, so kommt es nicht aus Mangel an schaffender Phantasie, sondern aus gewissen Principien, die er sich leider in den Kopf gesetzt hat, und nach denen er die Gaben seiner überaus feurigen Phantasie annimmt oder abweist. Kein echter Künstler läßt seine Phantasie beim Schaffen eines Kunstwerkes willkürlich walten, nimmt willenlos und ungeprüft alles an, was sie in ihrer Erregtheit bringt, er wählt aus und sichtet was er nach seinen Kunstmaximen und Ansichten für Recht und brauchbar hält. Aber was er für recht und brauchbar hält, darin kann er sich irren, und darin irrt Wagner sich nach der Meinung vieler wirklich, nach seiner und der Meinung Gleichgesinnter auch nicht. Man sagt ferner, er könne keine Melodien schaffen in der Art, wie sie bei Mozart, Beethoven, Weber und vielen andern frühern großen Meistern gefunden und mit großem Vergnügen gehört werden. Auch das ist nicht wahr, liebe Leser. Er kann sie bringen, er hat’s in einzelnen Fällen bewiesen. Wolfram’s Lied im Tannhäuser genügte als Beweis dafür, wenn er auch sonst dergleichen nicht gebracht hätte. Aber nach seinen neuesten Kunstansichten will er solche sogenannte populäre Melodie nicht mehr schaffen. Er hält sie nicht der Zukunft würdig. Er nennt sie absolute Musik, d. h. solche, wo die Melodie nicht mit dem Worte genau und wahr genug übereinstimmt. Das muß man bedauern, aber man darf ihm deshalb das Können dazu nicht absprechen.

Wagner verbannt ferner in seiner neuesten Richtung die gebräuchlichen Formen der Arie, des Duetts u. s. w., wie sie unsre frühern Meister gebraucht haben. Er setzt an deren Stelle meist das Recitativ, das deklamatorische und das Arioso, d. h. kleine melodische Phrasen blos.

Auch das hält Er und seine Jünger für wahrer, wirkungsvoller, der Zukunft würdiger. Ob er sich in letzterer Beziehung täuscht oder nicht, kann weder er noch wir mit Gewißheit behaupten, denn wir wissen nicht, was in der Zukunft Schooße schläft.

Ich denke, wenn Tamino: „Dies Bildniß ist bezaubernd schön“, wenn Max: „Durch die Wälder, durch die Auen“, Agathe: „Leise, leise“, Aennchen: „Kömmt ein schlanker Bursch gezogen“, Joseph: „In einem Thal bei armen Hirten“ u. s. w., u. s. w. singen, so empfinden wir Genuß, Vergnügen, Glück, obgleich diese Sachen Arien und Lieder genannt werden. Wir danken dem Schöpfer, daß er Menschen geschaffen, die uns diese Art von Musik haben machen können.

Was mir zuweilen Zweifel gegen die innerste Ueberzeugung Wagner’s und seiner Freunde hinsichtlich ihrer Prinzipien erregt, sind einige Widersprüche, die sie sich in einzelnen Fällen entwischen lassen.

Wagner will z. B. seine Musik nur für die Bühne berechnet haben, und protestirt gegen jede Aufführung einzelner Stücke daraus in Concerten. Er selbst aber hat Bruchstücke aus seinen Opern in Züricher Concerten vorgeführt, und auch seine Freunde thun es zuweilen.

Einen Hauptdrucker, womit man seiner Musik eine über alle andern Tonmeister hinwegragende Vollkommenheit beimißt, stellt man in der Phrase auf: „Wort und Ton sei in seiner Musik so innig mit einander verbunden, daß die Trennung beider Elemente gar nicht möglich sei, ohne sie zu zerstören. Eines ohne das Andre sei nichts. Beide verbunden das Höchste, was Poesie und Musik zusammen leisten könnten.“

Wenn das der Fall ist, wie kann es Wagner dann einfallen, seine Operntexte für sich drucken zu lassen und der Welt zur Lektüre mitzutheilen. Da ist doch die Musik vollständig von dem Wort getrennt? Und wenn seine Musik, von dem Wort getrennt, für sich nichts ist, wie konnte er dann, um nur ein Beispiel anzuführen, die Ouverture zum Tannhäuser so schreiben, wie er sie geschrieben hat? Sie ist aus lauter Musikgedanken zusammengesetzt, die in der Oper mit dem Wort verbunden waren, und hier, von dem Wort losgelöst und vollständig getrennt, als Musik für sich gelten und wirken sollen?

Daß Wagner Meyerbeer, Berlioz und alle neuen Opernconponisten der falschen Anwendung der Mittel nur um des äußern Effekts willen bitterlich anklagt und verächtlich behandelt, ist bekannt. Und doch wendet Wagner die Orchesterinstrumente in noch viel stärkerer Zahl und Besetzung – es heißt auf dem Theaterzettel: „mit verstärktem Orchester!“ – und in noch weit zahlreichern Momenten seiner Opern an, als irgend einer der geschmähten Componisten vor und neben ihm!

Wer von Euch, liebe Leser, eine Wagner’sche Oper gehört, wird wenigstens das zugeben, daß Meyerbeer keine stärkeren Ansprüche an Eure Nerven macht als Wagner. – Sollten zukünftige Generationen stärkere Nerven und einen robusteren Geschmack als die Gegenwart haben? Sollten jene nach vierstündiger starker Musik, wie sie Lohengrin bietet, nicht auch physisch und geistig ermattet sein, wie die Meisten von uns es sind?

Daß Wagner’s Opernmusik eine Menge Schönheiten erster Art enthält, wäre lächerlich, besonders aussprechen und beweisen zu wollen. Die vollen Häuser, die sie in der Regel macht, reden besser dafür als alle Lobphrasen. Es muß also in seinen Werken viel des Gefallenden und Anziehenden liegen. So erkennen wir das mit Dank an, und suchen wir uns durch immer nähere Bekanntschaft damit anzueignen, was unserer Natur genehm ist. Aber hüten wir uns, über den neuen Künstler die alten zu vergessen, zu vernachlässigen oder gar zu verachten. Die Wagner’sche Musik ist in dem großen Garten der Kunst eine eigenthümliche Pflanze, aber nicht die einzige, die des Beschauens werth wäre. Es giebt noch viele andere. Erhalten wir uns den empfänglichen Sinn für Alle.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_243.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)