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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Nach Tarasp.
Von Dr. L–n.
(Schluß.).


Die Reiselust der Engadiner. – Keine Bettler. – Die romanische Sprache. – Ein Wortbruch und das Schweigen der Lerchen. – Süs. – Schloß Tarasp. – Die Mineralquellen.

Mit der Abneigung des Engadiners gegen Neuerungen, scheint seine früher mehr gepflegte Lust zu ausländischen Kriegsdiensten, seine auch jetzt noch vorhandene Reisesucht gewissermaßen in Widerspruch zu stehen. Wie ehemals Tausende vom Kriegsdienste in die Ferne gelockt wurden, so wandert jetzt die Hälfte der männlichen Jugend in Folge des von Alters her im Volke schlummernden unwiderstehlichen Reisetriebs über die Berge und verbreitet sich mit der oben besprochenen Industrie über ganz Europa, während ihr einheimisches Thal fast gar keine Industrie kennt. Der Engadiner bewirthschaftet sogar die ergiebigen, ausgedehnten Alpen auf beiden Seiten des Thales nur selten selbst; sie sind an herumziehende Bergamascerschäfer, einem kühnen, kräftigen Menschenschlage aus dem Seriana- und Brembanathal an der italienischen Seite der Alpen verpachtet. Nur der Wiesencultur, neben dem nicht bedeutenden Getreidebau, wird noch eine gewisse Sorgfalt gewidmet, und zwar von den Frauen, deren schwarze Gestalten man schon frühe am Tage, ehe die Sonne noch über die Berge herübergestiegen, an den Abhängen stehen sieht, mit der Schaufel zum Oeffnen und Schließen der zahlreichen kleinen Kanäle, um das von weitem hergeleitete Wasser bald nach dieser, bald nach jener Rinne fließen zu lassen.

Auf den Bergen wird nach uralter Weise die Alpenwirthschaft geführt; und alles Andere überläßt der Engadiner dem Himmel oder fremden Händen, welch letztere ihn denn auch von seinen großen Waldungen befreien, um sie in den Salzwerken bei Innsbruck verschwinden zu lassen. Seine eigenen nicht unergiebigen Hüttenwerke liegen seit Jahren in Trümmern. Was unter solchen Umständen mit Recht erwartet werden könnte, ist eine zunehmende Verarmung und Erniedrigung, wie man sie wohl in manchen andern Gebirgsthälern bei ähnlichen Verhältnissen findet. Auffallenderweise täuscht man sich indessen hier vollständig in dieser Voraussetzung und stößt auf einen verhältnißmäßigen Wohlstand. Das wohlthuendste Zeichen desselben ist der Mangel an Bettlern. Die Leute sind nicht träge und liederlich; die Thätigkeit und Rührigkeit richtet sich nur in alter Gewohnheit nach der Fremde und sucht außer dem Lande einen Spielraum, den das stille abgelegene Alpenthal nicht gewähren kann. Manchen freilich ist auch draußen das Glück nicht hold, sie gehen zu Grunde; andere aber tragen die Früchte ihres Fleißes als Hauptquelle des neuen Wohlstandes in das heimathliche Dorf zurück. Aber eben der Umstand, daß der thätige Theil der Bevölkerung frühe das Weite sucht, erklärt einmal den wirklichen Mangel mancher Orte an jüngern Leuten, sodann die Fortdauer der alten Zustände, zu deren Bekämpfung die jüngeren Kräfte fehlen, die älteren, der Ruhe bedürftig, nicht mehr geeignet und geneigt sind.

Sollte man nach allem Diesen in dem Engadiner hervorstechende Charakterzüge eines eigenthümlichen Menschenschlages erwarten, so würde man sich auch hierin täuschen. Der ursprünglichen rhätischen Bevölkerung haben sich im Laufe der Jahrhunderte so viele andere Elemente beigemengt, so viele fremde Einflüsse haben eingewirkt, daß bestimmtere unterscheidende Züge verschwinden mußten, will man nicht die etwas scharfen Gesichtszüge und die ziemlich dunkle Farbe von Haut und Haar hierher rechnen. Nur die Sprache hat den rhätischen Ursprung treu überliefert, wie sie denn überhaupt so oft alle übrigen Stammesmerkmale überlebt. Das in 140 Gemeinden Graubündens vom Volke ausschließlich gesprochene Romanische ist wohl für einen selbstständig gewordenen Zweig der alten lateinischen Sprache zu halten. In ihm selbst aber giebt es zwischen der Mundart des Engadins, der lateinischen und der Rheinthäler nicht unbedeutende Abweichungen, die bei der ersteren in dem Vorwalten neuitalienischer Formen und Biegungen, bei der letztern in dem Zurücktreten derselben und der größeren Einmischung deutscher Stammworte begründet sind. Dem Ohre des Laien klingt das Romanische wie ein Gemisch französischer und italienischer Stammworte mit umgeänderten Vokalen, eingeschobenen Zischlauten und betonten Endsylben. Merkwürdig bleibt es immerhin, wie diese Volkssprache sich so lange gegen das Heranbringen des Deutschen und des Italienischen halten konnte. Neuerdings macht jenes als Unterrichtssprache in den seit fünfzehn Jahren sehr verbesserten Schulen immer mehr Fortschritte, und wird selbst in Engadin allgemeiner verstanden.

Der Weg bis Süs ist eine wilde Thalenge, über die links die grauen und eisigen Riesenhäupter des Scaletta und Fluela, die steilen Felspyramiden der Piz Grimpatsch und Gotschan hereinschauen. Die nähern Hügel krönen die Trümmer alter Burgen und Befestigungen; auf Caschinnas aus hohen Tannen ragen malerisch die Ruinen von Fortezza sura. Eine bedeutungsvolle Sage hat sich an ihr verfallendes graues Gemäuer geknüpft und erhalten. Die aufgebrachten Einwohner hatten dem abziehenden Zwingherrn des Schlosses Sicherheit zugesagt, aber gegen ihr Versprechen ihn doch erschlagen. Seitdem sollen die Lerchen nicht mehr singen an der Stelle des Wortbruchs. Auch dem Gegner Wort zu halten, lehrt die Volkssage. Wie selten müßte der Lerchensang werden, wäre es mehr als eine schöne poetische Sage, die aber ihren Erfindern alle Ehre macht!

Süs ist durch ein im Jahre 1537 hier gehaltenes Religionsgespräch bekannt, in Folge dessen bis auf geringe Ausnahmen ganz Engadin die Reformation annahm, um sie in ihrer ernstesten calvinistischen Gestalt und nicht ohne zahlreiche Blutzeugen festzuhalten. Der begeisterte Geschichtsschreiber seines Vaterlandes, Ulrich Campell, ist hier geboren. In schöner Thalweide liegt Lavin mit stattlichen Zuckerbäckerpalästen an der Mündung des Lavinnozthals. Hinten im Thale ragt die prächtige Pyramide des Piz Linard in die Wolken, bis 11,400 Fuß über dem Meere. Was den mehr kalten als lieblichen Ernst der Landschaft noch erhöht, ist die dunkle Tracht der begegnenden Engadinerinnen. Der vormals scharlachrothe in kleine Falten gelegte Rock der Weiber dieser Gegend hat allmälig dem Schwarz oder Dunkelblau Platz gemacht, wie es in Tyrol und in andern Thälern Graubündens vorherrscht. Auch den Kopf verhüllt ein schwarzes hinten herabhängendes Tuch; und fast will es uns bedünken, als sei der Ernst der düstern Kleidung auch auf die Züge der Trägerinnen übergegangen, die man selten heiter und lachend trifft. Durch den allgemeinen Gebrauch des Schwarzen hat dieses aber nun seine Bedeutung als Trauerfarbe verloren und als solche treten denn bunte Farben auf. So wird in der Gegend von Tarasp bei Leichenzügen der Sarg mit einem weißen Tuche bedeckt, rothe Bänder schmücken ihn und die nächsten Leidtragenden.

Guten Muthes schritten wir durch den sonnigen Herbsttag über die steile Höhe von Guarda, die uns 5200 Fuß über das Meer erhob, auf Ardetz zu. Alle diese Orte theilten in jenem für das Engadin so verhängnißvollen Jahre 1622 das gleiche Schicksal, durch die Brandfackel des Obersten Baldiron bis auf den Grund niedergebrannt zu werden. Mit Ausnahme zerfallener Schloß- und Thurmreste und einzelner Landwehren zum Abschluß des Thales begegnet man daher nur Gebäuden, wie sie die Kunst und Sitte des siebzehnten Jahrhunderts und die gebieterische Forderung eines langen Winters hervorgebracht. Schon bei Lavin, wo rechts das Thal Zezeina zum waldigen Gebirge führt, links vom rauhen Fermunt herab das Val Tuoi in seinem Hintergrunde ausgedehnte Schneefelder und Gletscher erblicken läßt, wurden wir des Zieles unserer Wanderung ansichtig. In klarstem Umrisse erhob sich aus der Thaltiefe, von höheren Gebirgen überragt, ein conischer Hügel, seine Spitze von einem weitläufigen, fast vollständig erhaltenen Schlosse gekrönt. Es ist Tarasp auf der südlichen Seite des Thals und die wilden Abgründe des Inns beherrschend. Eigenthümlich wie Gegend und Geschichte des Ortes ist der Zugang zu demselben. Wollten wir nicht noch einige Stunden thalabwärts auf langem Umwege uns nähern, mußten wir bei dem auf sonniger Halde gelegenen Ardetz mit seiner schönen Kirche und den Trümmern des festen Schlosses Reinsberg an der brausenden Tasna über den Inn, um auf kaum sichtbarem Wege uns am felsigen Ufer entlang über die Ausläufer des Pisoc hinzuwinden. Die nicht unbeschwerliche Wanderung wird aber reichlich gelohnt. Ueber den Abstürzen des Inns auf der untern bewohnten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_246.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)