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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Wolfs-Ammen in Indien.

Erzählungen von wilden Thieren, welche zufällig oder absichtlich ausgesetzte Kinder gesäugt haben, findet man fast in allen Ländern und häufig in sehr verschiedener Weise. Sie bilden eine Lieblingsfabel in Bezug auf große Helden und Gründer einer Nation. Der Hirsch, der Bär, der Hund spielen in denselben eine Rolle, aber am Häufigsten kommt der Wolf darin vor. Wie viel an der Geschichte des Romulus wahr ist, wollen wir dahin gestellt sein lassen. Etwas Wahres liegt diesen Erzählungen indessen sicher zum Grunde, und vor Kurzem ist „ein Bericht über Wölfe, die Kinder in ihren Höhlen gesäugt haben, von einem indischen Beamten“ erschienen, welcher der Beachtung eines künftigen Nibuhr’s werth ist. Der Name dieses wohlbekannten Beamten würde, wenn er veröffentlicht worden wäre, hinreichende Garantien für die Wahrheit und Genauigkeit seiner Berichte geben. Diese sind aber auch von der Art, daß sie unmittelbar für sich selbst sprechen.

Der Wolf wird in Indien, wie früher auch im nördlichen Europa als ein heiliges Thier angesehen. Fast sämmtliche Hindu’s haben eine abergläubische Furcht ihn zu tödten oder zu verwunden, und ein Dorf, in dem sein Blut vergossen worden, hält sich für dem Untergange verfallen. Die natürliche Folge davon ist, daß in allen Distrikten, wo wenig Europäer wohnen, die Wölfe sich so vermehren, daß sie nicht nur die größten Verwüstungen unter dem Vieh anrichten, sondern auch Kinder fortschleppen. Nur eine Klasse der Bevölkerung, die allerunterste, die ohne festen Wohnsitz ist, wagt es dem Wolf nachzustellen, aber auch diese thut es nur in der Absicht, sich des Schmuckes zu bemächtigen, den die von den Wölfen gefressenen Kinder getragen haben. Leider kommt es auch noch in allen Theilen Indiens vor, daß Kinder ihrer goldnen und silbernen Armbänder wegen ermordet werden.

Der Wolf ist zuweilen gütiger als der Mensch. In der Nachbarschaft von Sultanpur, in dem Hügellande an dem Flusse Gumti giebt es vorzugsweise viel Wölfe, und hier begegnen wir auch zuerst den Wolf-Ammen.

Als einst ein Soldat das Ufer des Flusses bei Chandour entlang ging, sah er eine Wölfin mit drei Jungen und einem kleinen Knaben aus ihrer Höhle kommen. Der Knabe ging auf allen Vieren und war offenbar mit seinen wilden Gefährten sehr vertraut und die Wölfin beschützte ihn wie ihre Jungen. Sie gingen nach dem Flusse und soffen, und es gelang dem Soldaten sich unbemerkt zu verstecken. Er wollte sich des Knaben bemächtigen, der Grund war aber so uneben, daß er ihn nicht ereilen konnte. Sie flohen in die Höhle und der Soldat ging nach Chandour und holte von dort Leute mit Pieken, um den Wolf aus der Höhle auszugraben, die 6–8 Fuß weit war. Die Wölfin brach mit ihren Jungen und dem Knaben aus. Der Soldat und die flinksten jungen Leute verfolgten sie rasch zu Pferde, trieben die Wölfin mit ihren Jungen ab und bemächtigten sich des Knaben.

Er war augenscheinlich 9–10 Jahr alt und hatte alle Gewohnheiten eines wilden Thieres. Auf dem Wege nach Chandour suchte er in jede Höhle zu schlüpfen, der sie begegneten. Der Anblick eines Erwachsenen schüchterte ihn ein und er suchte sich fortzuschleichen, auf Kinder sprang er aber mit einem Geheul, das wie das eines Hundes klang, und wollte sie beißen. Gekochtes Fleisch mochte er nicht essen, aber auf rohes Fleisch stürzte er sich mit Begier, setzte sich damit an die Erde und verschlang es mit Lust. Er heulte ärgerlich, wenn ihm Jemand beim Essen nahe kam, wenn aber ein Hund zu ihm kam, hatte er nichts dagegen, sondern theilte das Fleisch mit ihm. Der Soldat überließ ihn dem Rajah von Hasuanpur, der den Knaben sah, sobald er eingefangen war. Auf dessen Veranlassung wurden seine Aeltern ausfindig gemacht, sie mochten aber nichts von ihm wissen, da er die Wolfsnatur beibehielt. Drei Jahre lang lebte er unter der Aufsicht des Capitains Nicholett und blieb stets ein bloßes Thier. Nie konnte man ihn dahin bringen, ein Kleidungsstück anzulegen, selbst nicht bei der größten Kälte; einmal zerriß er eine mit Baumwolle gestopfte Matratze und verschlang Stücke davon mit seiner Nahrung. Wenn ihm diese hingestellt wurde, lief er auf allen Vieren danach wie ein Wolf, und nur selten ging er aufrecht. Menschen scheute er stets und war nicht gern bei ihnen. Dagegen liebte er Hunde und Schakals sehr und theilte sein Essen mit ihnen. Nie sah man ihn lachen oder lächeln und nie hörte man ihn sprechen, außer wenige Minuten vor seinem Tode; da legte er die Hände an seinen Kopf, sagte, er thue ihm weh und verlangte Wasser. Nachdem er dies getrunken, starb er. Hätte dieser Knabe länger gelebt, so würde er vielleicht allmälig zur Vernunft gekommen sein, es scheint aber, daß die menschliche Natur durch die thierische völlig überwuchert war.

Ein zweites Beispiel lieferte die Nähe von Gumti. Im März 1843 ging ein Arbeiter, der in Chupra lebte, 20 Meilen von Sultanpur mit seiner Frau und einem drei Jahre alten Knaben, der sich vor Kurzem am Knie verwundet hatte, auf’s Feld um sein Korn zu schneiden. Während der Vater es einharkte, sprang plötzlich ein Wolf nach dem Knaben und schleppte ihn in’s Hügelland. Der Vater rief die Nachbarsleute zu Hülfe, aber sie konnten die Spur des Wolfes nicht auffinden.

Sechs Jahre später sahen zwei Sipahin aus Singramur auf der Jagd an einem Hügel drei Wolfsjunge und einen Knaben aus einer Höhle kommen, nach dem Flusse gehn und saufen. Die Sipahin gingen nach, die Wölfe waren aber schon wieder in der Höhle und der Knabe wollte ihnen eben nach, da ergriff ihn der Eine beim Fuß und zog ihn zurück. Er war so böse und wild, daß er nach dem Manne biß und sogar mit seinen Zähnen in das Rohr seines Gewehrs fuhr und es heftig schüttelte. Die Sipahin bemächtigten sich aber seiner, nahmen ihn mit sich und hielten ihn zwanzig Tage in ihrem Hause, während deren er nur rohes Fleisch essen mochte und mit Hasen und Vögeln gefüttert wurde. Da es ihnen schwer wurde, dies fortzusetzen, nahmen sie ihn mit sich nach dem Bazar in der Nähe von Koelepur, um mitleidige Leute aufzusuchen, die sich seiner annehmen könnten. An einem Markttage sah ihn dort ein Mann aus Chupra und erzählte nach seiner Rückkehr seinen Nachbarn von ihm. Der Vater des Kindes war schon todt, die Mutter lebte aber noch und forschte eifrig nach der Beschreibung. Als sie hörte, daß er ein Zeichen am linken Knie und drei Maale von den Zähnen eines Thieres an beiden Schenkeln habe, machte sie sich auf, ging nach dem Bazar und entdeckte noch ein drittes Maal, das der Knabe bei seiner Geburt hatte.

Sie nahm ihn mit sich in ihr Dorf, aber wie in dem vorher erwähnten Fall schien sein menschlicher Sinn ganz verschwunden zu sein. Seine Kniescheiben und Ellnbogen waren von dem Gehen auf allen Vieren ganz hart geworden, und obwohl er bei Tage in dem Dorf umherging, so stahl er sich Nachts gern nach dem Dickicht. Er lernte nicht sprechen, selbst nicht einmal artikulirte Laute hervorbringen. Wenn er trank, hielt er sein Gesicht über das Wasser, leckte es aber nicht auf, wie ein Wolf. Rohes Fleisch war ihm stets am Liebsten, und wenn ein Stück Vieh gefallen und dessen Haut abgezogen war, stürzte er sich in Gesellschaft der Dorfhunde auf das Fleisch und fraß davon.

Der Verfasser der oben erwähnten Schrift führt noch mehrere diesen ganz gleiche Fälle an. Wir übergehen diese und erwähnen nur eines, der der merkwürdigste von allen ist. Vor ungefähr sieben Jahren sah ein Soldat, der in Begleitung des Rajahs Hurdut Singh von Bondi am Ufer des Flusses Ghagra im Distrikt Bahraetch entlang ging, zwei Wolfkälber und einen Knaben trinken. Es gelang ihm, sich des Knaben zu bemächtigen, der ungefähr zehn Jahr alt und so wild war, daß er die Kleider des Soldaten zerriß und ihn an mehreren Stellen mit Bissen verwundete. Der Rajah ließ ihn zuerst festbinden und mit rohem Fleisch füttern, später erlaubte man ihm jedoch in dem Bazar von Bondi umherzugehen. Hier stahl er eines Tages ein Stück Fleisch aus einem Schlächterladen und als er dies bei einem andern wiederholte, schoß dieser mit dem Bogen nach ihm und der Pfeil drang durch seinen Schenkel. Ein Mann, Namens Janu, der Diener einen Kaufmanns aus Caschmir, der sich in Bondi befand, nahm sich mitleidsvoll seiner an, zog den Pfeil heraus und machte ihm ein Lager unter einem Mango-Baum zurecht, unter dem er selbst sein Zelt aufgeschlagen hatte. Dort fesselte er ihn an einen Zeltpfahl. Bis dahin hatte der Knabe nur rohes Fleisch gegessen, Janu brachte ihn aber dahin, daß er Reis und Hülsenfrüchte aß. Nachdem er sechs Wochen lang dort gefesselt gelegen hatte und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_269.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)