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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

erkennen. wenn ein Arzt seit Adam’s Zeiten allen lebenden Menschen in jeder Secunde einen Quintillionstheil eines Granes irgend eines Arzneimittels gegeben hätte, so würde dennoch der ganze Verbrauch bis jetzt noch nicht auf ein Tausendtheil vom Milliontel eines Grans sich belaufen.

Durch solche Berechnungen seiner Gegner auf das Lächerliche seiner Verdünnungen aufmerksam gemacht, behauptete endlich Hahnemann, – da er sich denn doch schämte, eine durch die Verdünnung hervorgerufene Steigerung der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Mittel als Erklärungsgrund so eminenter Wirkungen zu gebrauchen und er doch die Wirksamkeit der so verdünnten Arzneimittel nicht aufgeben wollte, – daß durch diese Verdünnungen die Mittel entkörpert würden und zu lauter arzneilichen Geistern aufgingen. Ueber die Macht dieser Geister weiter noch zu reden wäre ebenso thöricht, wie Jemanden von dem kindischen Glauben an das übernatürliche Wissen der Tischklopfgeister und der Somnambülen oder Magnetisirten, die sogar mit dem Bauche lesen sollen, abbringen zu wollen. Nur trauern kann man darüber, daß eine Menge der Geschöpfe, welchen von Natur so viel Materie zum Verständigwerden gegeben, in Folge verkehrter Erziehung so entsetzlich unverständig ist.

(B.) 




Pariser Bilder und Geschichten.
Das Proletariat.
Die Stadt der Proletarier. - Minister Persigny. - Das Elend des Proletarierthums. – Die Geschichte eines jungen Mädchens. – Der Pariser Arbeiter. – Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeiter. – Die alten Arbeiter und ihr Ansehen.

Paris ist so recht eigentlich die Stadt der Proletarier, es ist der Mehrzahl nach von Leuten bewohnt, die nichts haben, als ihre brennenden Wünsche zu besitzen und zu genießen, ihre Projekte, ihren Ehrgeiz, ihre Fähigkeit und – ihre Illusionen. Paris ist eine heiße gefährliche Arena, in die sich Tausende und aber Tausende von Wettkämpfern stürzen, um den Preis zu gewinnen. Wie Wenige werden gekrönt, wie Viele unterliegen der Mühseligkeit des Kampfes, und über die zu Boden Gestreckten brausen erbarmungslos die Sieger, die andern Kämpfer.

In Paris fängt das Proletariat in den Dachstuben an und hört in den glänzendsten Salons nicht auf. In allen Höhen und in allen Tiefen dieser ewig bewegten Gesellschaft dieselbe Unzufriedenheit, dieselbe Unruhe, dieselbe fieberhafte Gier nach einer bequemen gesicherten Lage, derselbe Durst nach Geld, dem Götzen, der mächtiger ist als Jugend und Schönheit, Verdienst und Talent, da er sie hier doch alle entthront, die ursprünglichen Gottheiten der schönen Erde. Das erste Lallen des Kindes, das letzte Stöhnen des Greises ist: Geld!

Den eigenthümlichen Charakter, seine kochende Leidenschaft und fieberhafte Kraftanstrengung, das Wirbelhafte des Lebens, die heftigen Reibungen und Anstöße der arbeitenden Elemente erhält Paris schon aus der Art und Weise, wie es sich bevölkert und durch die Natur des Franzosen, der heißblütig, von lebhafter Phantasie, zu heftigen Anläufen geschaffen, der Ausdauer ermangelt und nie erreicht, was er nicht rasch gewinnt, den ein stilles genügsames Leben so sehr langweilt, daß er den Sturz in die Brandung, den Kampf mit dem Strom und Wellen, der ruhigen Ansiedelung am Ufer vorzieht.

Paris bevölkert sich nur sehr wenig durch sich selbst, sondern zieht zum größten Theil aus den Provinzen seine Einwohner. Und es übt wahrhaftig nicht auf die bescheidensten geordnetsten Naturen seine größte Anziehungskraft.

Das Mädchen, welchem seine häuslichen Verhältnisse drückend oder ungenügend erscheinen, das beeinträchtigt, oder im Zaume gehalten wird, das Unrecht oder billige Zurückhaltung ungeziemender Neigungen erfährt, glaubt sich zu retten oder zu befreien, indem sie dem glänzenden Traume folgt, den sie von Kindheit an geträumt: sie eilt nach Paris; die Arme folgt mit Wahnsinnsschauern diesem dunkeln Verhängniß, das[WS 1] sie zurückschreckt, aber doch noch mächtiger anzieht. Nun kann sie ungescheut all ihren Trieben folgen. Ueberall offene Wege; an welches Ziel wird sie gelangen, nachdem sie mit dem Kreis gebrochen, der sie beschränkt, aber auch geborgen?

Eine Andere sieht sich in ihrem Dorfe oder Städtchen von der Gesellschaft nicht ohne Grund zurückgestoßen; sie geht nach Paris, wo sie für den Verlust der ehrbaren Gesellschaft sich durch eine andere, die sich gewiß nicht weigert, sie aufzunehmen, entschädigt.

Ein ungerathener Sohn in der Provinz, der der strengen Zucht seines Vaters und der Arbeit entrinnen will und der sich Genie genug zutraut, um in der großen Welt sein Glück zu machen, jagt mit Dampfesschnelle nach Paris.

Der Spekulant, der hoch hinaus will und die Beschränktheit der Mittel auf dem Lande als ein Hemmniß seiner Laufbahn betrachtet, eilt nach Paris, dem Mittelpunkte der Unternehmungen.

Wer moralisch oder materiell, schuldig oder unschuldig, so tief herabgekommen, daß er in seiner Umgebung auf keine hülfreiche Hand, weder auf Theilnahme noch auf Vertrauen für sein Leben mehr zählen kann, der setzt Alles auf die letzte Karte; er geht nach Paris, um entweder emporzukommen oder in der Seine zu enden.

Jeder der verdient oder unverdient in Verruf gekommen, der entweder mit sich oder mit der Gesellschaft oder mit beiden zu grollen Ursache hat, der entweder Unrecht gethan oder erlitten; wer nur immer aus den Geleisen des gewöhnlichen Lebens durch sein eigenes Wesen oder durch ein Geschick hinausgezogen wird, was die kleineren Gemeinschaften der Provinz nicht dulden oder nicht verzeihen, der sucht sich in Paris weitere Kreise und freieren Athem.

Der Denker, der Forscher, der Träumer, der Künstler, Jeder, der einen großen Gedanken oder eine große Leidenschaft, eine große Fähigkeit oder einen großen Charakter an sich trägt, für die es nicht Raum genug giebt in der engen Welt der Provinz, die Thier’s, die Lafitte’s, die Hugo’s, die Lamennai’s, die Arago’s, die ziehen nach Paris, um ihr Kapital zu finden, Ehren, Ruhm und Einfluß zu gewinnen.

So rekrutirt sich das Proletariat und so aus diesem wieder die Welt von Einfluß und Gewicht.

Der Minister Persigny, um nicht noch höher emporzusteigen, hat vor wenigen Jahren bei Herrn Havas in der Straße Jean Jacques Rousseau für 100 Franken monatlich lithographirte Berichte abgeschrieben, glücklich auf diese Weise sein Leben zu fristen. Heute sind sein Gehalt und seine Ansprüche um ein Bedeutendes gesteigert. Der ehemalige Proletarier hilft nun das Schicksal Frankreichs lenken.

Das Elend des Proletarierthums hat seine Abstufungen. Eins jedoch ist gewiß, daß keine Entbehrung mächtig genug ist, der Anziehung der Hauptstadt an der Seine das Gleichgewicht zu halten.

Ich kannte ein junges Mädchen, das aus Sens gebürtig, nach Paris gekommen war, um sich da durch Arbeit zu ernähren; sie hatte ihr väterliches Haus verlassen, weil sie einen Heirathsantrag zurückgewiesen, zu dessen Annahme man sie durch Hinweisung auf eine reichliche Versorgung veranlassen gewollt. Ihr Vater hatte ihr die ernste Vorstellung gemacht, daß sie mehrere jüngere Geschwister habe und seine Verhältnisse nicht günstig genug seien, um ohne drückende Beschwerde den Unterhalt der Seinigen zu bestreiten: daß sie also kein Recht habe, ein Glück von sich zu weisen, das nicht nur ihr selbst, sondern der ganzen Familie zu Gute käme. „Wenn es sich blos um die Last handelt, welche ich Ihnen auflege, von der kann ich Sie befreien, ohne daß ich mich zu einer Verbindung hergebe, die meinem Geschmack und meinem Herzen widerstrebt. Ich habe die nöthige Geschicklichkeit und den nöthigen Muth zur Arbeit. Ich werde mich so gut wie jede Andere selbst erhalten. In den nächsten Tagen gehe ich nach Paris, da werde ich mein Glück schon machen;“ so antwortete das

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: daß
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_280.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)