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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 27. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Arzt und Advokat.
I.

Eine trübe, nebelige Nacht lag über die Häusermasse Hamburgs. Die feuchten Straßen waren wie ausgestorben, nur von Zeit zu Zeit hörte man die schweren Tritte der Wächter, die sich wie unheimliche Gestalten an den hohen Gebäuden hinbewegten. Die Glocken hatten die erste Stunde nach Mitternacht verkündet, als ein Mann, fest in einen Mantel gehüllt, den neuen Wall betrat, eine der schönsten Straßen, die nach dem verheerenden Brande im Jahre 1812 in der reichen Handelsstadt entstanden sind. Er ging so eilig über die breiten Trottoirs, daß ihm ein alter Diener, der ihn begleitete, kaum zu folgen vermochte. An einem der größten und prächtigsten Häuser blieb er stehen. Der Diener zog einen Schlüssel hervor, öffnete die schwere Thür, und ließ seinen Begleiter eine weite, matt erhellte Hausflur betreten.

„Wo ist Herr Raimund?“

Noch ehe der Diener diese an ihn gerichtete Frage beantworten konnte, öffnete sich eine Thür, und ein junger Mann, bleich und zitternd, trat hastig heraus.

„Doctor! Doctor!“ rief er leise, indem er sich ihm wie ein Verzweifelnder an die Brust warf, den Kopf auf seine Schulter senkte, und leise zu weinen begann.

„Muth, Muth, mein lieber Freund!“ sagte mit bewegter Stimme der Arzt. „Wir Alle stehen in Gottes Hand, und er hat schon oft geholfen, wenn menschliche Kunst und Hülfe vergebens waren. Sie sind meiner Aufforderung gefolgt und von der Reise zurückgekehrt – das ist mir lieb. Jetzt fassen Sie sich, und führen Sie mich zu der theuern Kranken.“

Raimund erhob sich und sah mit seinen thränenfeuchten Augen den Arzt schmerzlich an.

„Mir scheint“, flüsterte er, „der Zustand meiner guten Louise ist sehr bedenklich – sie erkannte mich nicht, als ich vor einer Stunde ankam – in meiner Todesangst ließ ich Sie rufen.“

„Sie haben recht gethan“, sagte der Arzt, und drückte dem betrübten Manne tröstend die Hand. Dann warf er seinen Mantel ab und ließ sich von Raimund in das Krankenzimmer führen, das mit großer Bequemlichkeit, selbst mit Luxus ausgestattet war.

Eine schon bejahrte Kammerfrau entfernte sich bei dem Eintritte der beiden Männer. Der Arzt trat zu dem Bette, dessen weiße Gardinen zurückgeschlagen waren, und betrachtete prüfend das bleiche Gesicht der Kranken, einer schönen jungen Frau von vielleicht drei- bis vierundzwanzig Jahren.

Wohl zehn Minuten verflossen unter tiefem Schweigen. Dann trat der Arzt zurück und flüsterte:

„Es ist eine Krisis eingetreten. Wir können nichts thun, als uns in Geduld fassen.“

„Doctor“, flüsterte Raimund dringend, „verbergen Sie mir nichts, sagen Sie mir die reine Wahrheit, ich habe die Kraft, sie zu hören! Sehen Sie doch – ich bin völlig ruhig – ich beklage mich nicht – was halten Sie von dieser Krisis?“

Trotz der Anstrengung, mit der Raimund seine Bewegung zu verbergen suchte, verriethen dennoch die Blässe des Gesichts die mit Thränen gefüllten Augen, und das leise Beben der Stimme die ungeheure Angst, die sein Herz zusammenpreßte.

Der Arzt begriff nur zu gut die schreckliche Verzweiflung, die sich unter dieser scheinbaren Ruhe verbarg. Er erfaßte die brennende Hand Joseph Raimund’s, drückte sie sanft und sagte in einem schmerzlich milden Tone, mit dem man Unglückliche zu trösten sucht: „Raimund, mein lieber, lieber Freund, ich hoffe zu Gott, daß diese Krisis heilbringend sein wird; aber ich verhehle auch nicht, daß sie die schlimmsten Folgen haben kann. Jetzt entfernen Sie sich, ich beschwöre Sie – Ihre Gegenwart ist mir lästig, sie stört mich in meinen Beobachtungen. Glauben Sie mir, ich bedarf meiner ganzen Ruhe und Kaltblütigkeit. Die geringste Bewegung übt einen unheilvollen Einfluß auf die Kranke aus. Ein Wort, ein Seufzer kann die Hoffnung vernichten, die ich noch hege. Darum entfernen Sie sich, mein Freund – ich bitte Sie!“

„Nein, Doctor, nein!“ antwortete der junge Mann in verzweifelnder Beharrlichkeit – „ich kann dieses Zimmer nicht verlassen. Dort, dort, am Fußende ihres Bettes ist mein Platz. Tragen Sie keine Sorge, ich werde still und stumm sein, denn ich weiß ja, daß von meiner ruhigen Ergebung das Wohl meiner geliebten Louise abhängt.“

„Nun, so bleiben Sie denn, da Sie es wollen; aber ich empfehle Vorsicht, die größte Vorsicht!“

Der Arzt schwieg und setzte sich leise auf einen Stuhl neben dem Bette. Wie überwältigt von seinen Gefühlen, versank Raimund in eine schmerzliche Regungslosigkeit. Eine wahre Grabesstille folgte dem leise geflüsterten Gespräche der beiden Männer. Man hörte nichts mehr als die gleichförmigen Schläge einer Pendeluhr und das schwere Athmen der Kranken. Draußen hörte man die Stimme des Wächters zwei Uhr rufen.

Benutzen wir die eingetretene Pause, um den Lesern etwas Näheres über die drei Personen zu sagen, die sich in dem Zimmer befinden. Der angehende Greis ist der Doctor Friedland, einer der angesehendsten Aerzte Hamburgs. Der jüngere Mann ist der Großhändler Joseph Raimund, der Besitzer eines der größten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_309.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)