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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

bemüht sich kein Ruhmes-Flittergold anzuhängen. Wer ruhig mitten auf dem neutralen Boden sitzt und seit Monaten alle Tage wieder liest, daß die entscheidende Schlacht noch nicht geschlagen und selbst Spielereien von kriegerischem Mord und Todtschlag sich nicht immer bestätigen, dem geht seine strategische Weisheit aus und er ruft muth- und unwillig, wie die Buben von der Gallerie: „Anfangen! Anfangen! Vorhang auf! Schießen Se los!“

Ich rufe auch mit, denn ich bin kein strategisches Genie, der hinterm Vorhange Bescheid weiß, aber so viel habe ich gesehen, daß man mit der furchtbarsten, kolossalsten Thätigkeit bei Tag und Nacht doch ungeheuer viel Zeit brauchte, um mit 20,000 Mann und dem nöthigen Proviant für Menschen, Pferde und Weiber (die in ziemlicher Anzahl mitfuhren), der nöthigen Munition, den nöthigen Kohlen u. s. w. von England bis nach Gallipoli und Scutari zu kommen. Man sehe sich die Entfernung mal auf der Karte an, denke sich die Hunderte von Meilen einzeln und dann zusammen und dann, daß eine an gutes Essen und Trinken gewöhnte Armee, eine Land-, Fuß- und Pferde-Armee zu Wasser aus dem Abendlande in das Morgenland zu bringen war – so haben wir mit Hülfe dieses leicht skizzirten Vorder- und Hauptgrundes wohl Stoff genug zur richtigen Beurtheilung der englischen Hülfstrnppen in der Türkei. Da sie nicht „in einem Futter“ hinkommen konnten, sondern auf Malta übernachten mußten, bekamen wir im Wesentlichen drei dramatische Hauptbilder, in welchen wir ihre nähere Bekanntschaft machen: Abreisebilder in England, Rasttage auf Malta, Landungs- und Aufenthaltsscenen in Gallipoli und Scutari.

Es ist nach Mitternacht. Selbst in Londons Hauptstraßen ist Leere und die Lampenreihen beleuchten blos einsame Gestalten männlichen und leider auch weiblichen Geschlechts. Nur auf dem Trafalgar-Platze wimmelt und murmelt es um Karls I. Reiterstatue und die hohe Nelson-Säule herum immer lauter und dichter, je näher der Morgen kömmt, größtentheils von Weibern und Kindern, welche in den Armen der Mütter schlafen, aber es diese Nacht sehr oft vorzuziehen scheinen, unbarmherzig zu schreien. Die Erwachsenen verhalten sich ruhig und beruhigen Kinder und Erwachsene. Ihr zäher Geduldfaden reicht durch die ganze kalte Nacht hindurch bis acht Uhr Morgens. Die Garde, welche von hier aus Abschied nehmen wollte, um nach dem Osten abzugehen, hatte schon um vier Uhr fertig sein sollen, und die Frauen, Verwandten und Geliebten deshalb gleich nach Mitternacht zum letzten Stelldichein gebeten. Aber ehe ein englischer Soldat mit Sack und Pack, diesmal in fürchterlichster Vollständigkeit, fertig wird, vergehen die strengsten Ordres auf Zeit wie Spreu. Muß er nicht auch jeden Morgen frisch rasirt sein? Bis acht Uhr hatten sich also die kolossalen Rothröcke mit weißbordirten rothen Leibrocksklappen hinten, fürchterlichen Pelzmützen auf dem Kopfe und sechsfach mit Lederzeug zugeschnürter Brust alle durch die Weiber und Kinder und Enthusiasten, die wiederholt jauchzten und Mützen schwangen, hindurch gedrängt und jeder Weib und Kinder zum letzten Male an das Lederzeug gedrückt. Es mußte angetreten werden. Die Musik schmetterte und donnerte, die Leute jauchzten und heulten und mit gleichem, schwerem, langbeinigem, sonst aber ziemlich ungenirtem und bequemem Schritt marschirte das Regiment ab nach der Eisenbahn, die es zunächst nach der Hafenstadt bringen sollte, wo man Wochen lang unaufhörlich an der Ausrüstung des Schiffes gearbeitet. Das war noch nicht der hundertste Theil. Und mit welchen Schwierigkeiten mußten zum Theil die andern 99 vorbereitet und zu Schiffe und zu Lande oft Hunderte von Meilen weit her bis zum Hafen geschafft werden, von Ireland, von den schottischen Hochlanden und sonst aus unzähligen innern Theilen her! Die Grenadier-Garde, die Füsilier-Garde, die Coldstreams (von Monk in dem Orte Coldstream, Schottland, gegründet und seitdem am Reichlichsten mit militärischem Ruhm bedeckt) das 41ste, 47ste, 49ste, 88ste Linienregiment, das 33ste, 37ste, 77ste der Linien-Infanterie, die beinkleiderlosen Hochländer (39ste) und einige andere Infanterie-Bestandtheile mit ihren Aerzten, Apotheken, Krankenwagen, neuen Testamenten und Bierkrügen, dann die zwei Brigaden leichte und schwere Cavallerie, letztere aus der vierten irländischen Escadron Garde-Dragoner, der fünften „der Prinzessin von Wales“, der ersten Königlichen Dragoner und der sechsten „Inniskilling“, erstere aus der achten „Königs königlichen irländischen Husaren“, der eilften „Prinz Albert’s eigenen Husaren“, der dreizehnten leichter Dragoner und der siebenzehnten Lanziers (zusammen 2000) bestehend, mußten alle gründlich vorbereitet, ausgestattet, zusammen- und nach dem Hafen gebracht, flott gemacht und so nach und nach in’s Morgenland spedirt werden. Zwanzigtausend Mann für den Krieg, mit Pulver, Blei, Eisen, Pferden, Decken, Wäsche, Testamenten und gutem Rasirzeug!

Unser Bild sagt, wie sie aussehen. Zum Theil fabelhaft kostspielig, und weniger zum Theil geschmacklos und unpraktisch uniformirt und überladen. Am Malerischsten sieht noch der hochschottische Infanterist ohne Beinkleider aus. Er hat doch wenigstens etwas Schottischkarrirtes, Nationales an sich. Es ist eine Art historischer Styl an ihm. Die gewöhnliche englische Infanterie hat sich durchweg einen furchtbaren schwarzen Bären auf den Kopf gebunden, auf dessen Fell die Sonne der Levante gar lieblich warm scheinen muß. Der Soldat kann sich sein Rostbeef unter der Mütze schmoren. Seine krebsrothe, eng zugeknöpfte, weißbelitzte Uniform schimmert in der Sonne sehr weit, so daß ihn der Russe gut treffen kann, zumal da das dreifach über die Brust gespannte und geschnürte weiße Lederzeug die Brust zu einer guten, gefelderten Schießscheibe macht. Die leichte Infanterie hat zum Theil Bären auf dem Kopfe, zum Theil Czako’s in dem alten preußischen Styl mit Sternen und je einem großen Balle darauf.

Die Artillerie, von der eine noch nicht abgeschlossene Zahl hinübergeschafft ward und wird, ist blau und golden und auch beczakot. Am Stolzesten sind die Engländer auf die Roß-Garde, die Leibgarde der Königin, wo jeder Mann zu Pferde für 700 bis 1000 Thaler Kleidung und Schmuck an und unter sich (ohne das Pferd) haben soll. Demnächst sind ihre Augenweide die leichten Dragoner, husarenartig behangen und mit einem breitgeformten Bärenpelze bedeckt, aus dem eine Kugel, aus der Kugel ein schwerer, metallener Halter und aus dem Halter ein fliegender Flederwisch hervorragt. Die Presse hat sich über das Geschmacklose, Schwerfällige, den Muth in der Brust Zusammendrückende, dem Kopfe Verbrennende oder Zerquetschende, das niederträchtig Krebsrothe u. s. w. der englischen Militär-Kleidungsstücke die Finger wund geschrieben: es hat nichts geholfen. Man traut dem Soldaten einmal Alles Gute zu und ist fest überzeugt, daß ein Engländer gleich drei Franzosen gleich zehn Türken gleich vierhundert Russen und überhaupt unvergleichlich sei. Von sachverständigen Militärs habe ich gehört, daß der englische Soldat im sogenannten „kleinen Dienste“, in Scharmützeln und Attaken, überhaupt da, wo es gilt, persönlichen Muth zu zeigen, unvergleichlich, dagegen in der großen Schlacht, in weiten, großen Evolutionen den Russen durchaus weit untergeordnet sei. Sonst versteh’ ich nichts davon; ich will denselben Vorzug des guten Bürgerthums, das die „Bürgerwehr“ wohl vergessen haben wird, bei dem Leser voraussetzen.

Ich bemerke noch, daß Lord Raglan, Sprößling einer alten sächsischen Familie, mit hoher Stirn, die durch etwas Kahlköpfigkeit noch erhöht erscheint, Schnurrbart und etwas Haarwuchs zwischen Unterlippe und Kinn, wodurch er sich vortheilhaft vor den englischen Durchschnitts-Physiognomien unterscheidet, Chef-Commandeur der englischen Hilfsstruppen und Ritter des russischen St. Annen-Ordens ist und in dem prächtigen Palaste des russischen Gesandten zu Constantinopel wohnt. Earl of Lucan ist Commandeur der Cavallerie, der Herzog von Cambridge, ein großer, schöner Lebemann im höchsten Style, von dem es früher einmal hieß, daß er statt des Prinzen Albert von der Königin gewählt werden würde, commandirt die Infanterie. Wer das General-Commando über beide vereinigten Heere erhalten soll, ob ein Franzose oder Engländer, war bei dem Niederschreiben dieser Zeilen noch eine große Streitfrage in Varna. Wahrscheinlich giebt England „nach“: die Franzosen sind sehr eifersüchtig und eitel. Fanden sich doch die Engländer schon genöthigt, ihre Fahnen, die mit Waterloo und dergleichen historischen Reminiscenzen decorirt sind, zu verhüllen.

Nun einen kleinen Abstecher auf Malta, das wir dem Leser schon früher gezeigt haben. Lavaletta sieht jetzt aus wie ein Feldlager. Mit den eingebornen Malteser Inselsoldaten finden wir 10 Regimenter (alle sehr klein im Vergleich zu dem continentalen Begriffe von Regiment, ich glaube 6–800 Mann jedes) Engländer, drei Bataillons Garde, zwei Compagnien „Rifle“-Soldaten und vier Compagnien Artillerie, schottische Füsiliere, „Buffs“ (drittes Regiment) Grenadiergarde u. s. w., die alle in ihren verschieden gescheckten Uniformen die Straßen, Kaffee- und Speisehäuser und andere Häuser erfüllen und mit komischem Staunen die seltsamen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_314.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)