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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

von Einem derselben in sein jetzt verlassenes Auditorium. Hier fand er alle seine Zuhörer feierlich versammelt, die Räume mit Blumen und Kränzen geschmückt, und am Platze, wo sonst sein Katheder sich befand, stand ein Tisch mit einer großen, schönen Luftpumpe und dem berühmten, kostbaren Atlas von Stieler. Diese Geschenke wurden dem Gefeierten mit einer innig wohlthuenden Rede überreicht, in welcher, fern von aller doch so wohl berechtigten Bitterkeit, nur auf das innige Verhältniß gewiesen wurde, das den geliebten, hochverehrten Lehrer mit den dankbaren Schülern verknüpfte. – Der so schwer Verletzte hatte in allen diesen Thatsachen gewiß die schönste Genugthuung erhalten; aber man ging noch weiter: Sieben und zwanzig Zuhörer Moleschott’s, Studirende und Doctoren verschiedener Facultäten richteten nachstehende Adresse an das badische Ministerium, zugleich beschließend, derselben durch Insertion in öffentliche Blätter allgemeine Verbreitung zu geben, um vor der gebildeten Welt die sittliche Ehre des so schwer Beschuldigten auch ihrerseits zu vertreten. Die Adresse lautete also:

„Die unterzeichneten dermaligen Zuhörer des Privatdocenten Dr. Moleschott erlauben sich mit Ueberreichung dieser Zeilen frei und selbstständig gegen die demselben gemachten Vorwürfe, daß sein Wirken an hiesiger Universität ein frivoles und unsittliches sei, feierlichst zu protestiren. Eine Beschuldigung, die den Charakter eines nicht allein in der Wissenschaft, sondern auch im Leben, in engern wie in weitern Kreisen allgemein hochgeachteten Mannes trifft, ja die allen Charakter geradezu negirt, eine so harte Beschuldigung muß sich unsers Erachtens auf Beweise gründen. Wir nun, die wir die Vorlesungen des Dr. Moleschott mit Aufmerksamkeit angehört haben, vermögen nicht die leiseste Spur einer Thatsache zu entdecken, welche die oben angeführte Bezeichnung im Geringsten rechtfertigen könnte. „Unsittlich“ ist nur die bewußte Lüge, welche die Wahrheit verbergen will, aber nicht das lehrende Wort eines Mannes, der nach Wahrheit ringt; „frivol“ ist nur der Hohn des Spötters, aber nicht die lebendige Rede eines Mannes, der seine feste, innige Ueberzeugung ausspricht, der keine Meinung, keinen Glauben verletzt und kränkt, sondern mit milder Schonung Andersdenkender nur für Das, was er als wahr erkannt, einen wissenschaftlichen Kampf kämpft. Einfach und rein, in edle Form gegossen, hat er uns die Resultate seiner Forschungen mitgetheilt, Jedem das eigene Urtheil frei anheimgebend. In streng wissenschaftlichem Geiste verschmähte er es, durch geistreiches Spiel der Gedanken den Zuhörer zu blenden und überredend zu seiner Ansicht zu verlocken. Wir sehen uns deswegen und weil eine Anklage des Dr. Moleschott von Seiten eines Dekanats hiesiger Universität nicht vorliegt, zu der Ueberzeugung hingetrieben, daß Verleumdung und Verdächtigung das rein wissenschaftliche Wirken unsers Lehrers einem hohen Ministerium gegenüber entstellt haben, und wir fühlen uns selbst umsomehr dadurch verletzt, da jene Beschuldigung, wenn sie begründet wäre, uns mittreffen würde, die wir den Vorträgen des Dr. Moleschott mit Interesse und Liebe gefolgt sind, die wir in ihm den Lehrer wie den Menschen in gleich hohem Grade verehren und lieben lernten. Aus diesen Gründen nun, aus Liebe zur Wahrheit, aus Dankbarkeit gegen unsern Lehrer und aus Achtung vor uns selbst fühlen wir uns verpflichtet, gegen obige Beschuldigung uns feierlichst zu verwahren, und bitten ein großherzogliches Ministerium um weiter nichts, als um Veröffentlichung Dessen, worauf jener Vorwurf der Unsittlichkeit und Frivolität gestützt wird, damit die Welt frei und unparteiisch über die Sache richten könne etc.“ (Folgen die Unterschriften.)

So sprachen die Zuhörer und Schüler Moleschott’s, so sprachen freie Männer der Wissenschaft.

Wir wollen hier noch einen kurzen Ueberblick auf das Leben und die Person des Mannes geben, dessen „Lehre der Nahrungsmittel, für das Volk bearbeitet“, und dessen „Kreislauf des Lebens; physiologische Antworten auf Liebig’s chemische Briefe“ als großartige Ereignisse im Gebiete der Naturwissenschaft, als Begründung einer neuen Lebens- und Weltanschauung gelten müssen.

J. Moleschott wurde am 9. August 1822 zu Herzogenbusch (in Holland) geboren, wo sein Vater noch jetzt ein hochgeachteter und sehr beschäftigter Arzt ist. Dieser übte auf des Sohnes Leben selbst den größten Einfluß aus; von ihm lernte der Sohn nicht allein lesen und arbeiten, sondern auch denken, und die beste Anleitung für ein fruchtbares Wirken am Krankenbett.

Nach holländischer Sitte waren die neuen Sprachen, französisch und englisch, die ersten Stoffe, die für den Unterricht des jungen Moleschott verwendet wurden. Dabei gründliche Erlernung der Muttersprache, deren abstrakte grammatikale Definitionen ihm später gute Hülfe leisteten bei Erlernung der alten Sprachen. Das Deutsche hingegen wurde schlecht, jede andere Realwissenschaft mehr als mittelmäßig betrieben. Erst von seinem 13. Jahre an genoß der junge Moleschott Unterricht in den alten Sprachen, besonders in der lateinischen. Mit 17 Jahren kam er auf das preußische Gymnasium zu Cleve, wo er eine vortreffliche Schulbildung genoß. Diese seine Schuljahre bezeichnet Moleschott jetzt noch als ihm unvergeßlich für seine ganze geistige Entwickelung. Den Lehrern Heine und Kiesel dort (jetzt beide Direktoren in Düsseldorf, jener der Gewerbschule, dieser des Gymnasiums) verdankt er seine Grundlage der Mathematik; dem Direktor Helmke die Erweckung zu gediegener Ausbildung des Geschmacks, den dieser Lehrer durch seinen Vortrag der griechischen Classiker, namentlich des Sophokles, so wunderbar zu erregen wußte. Am Tiefsten aber wirkte auf ihn ein sein Lehrer Moritz Fleischer, (durch herrliche Aufsätze in den holländischen Jahrbüchern auch in weitern Kreisen bekannt: dieser führte ihn zur Philosophie; aber nicht am Gängelbande octroyirter Doctrin, sondern indem er anregend, leise berichtigend oder fast bestätigend, des empfänglichen Jüngers Schritte zu vorurtheilsfreier Untersuchung lenkte. Moleschott bezeichnet diesen vortrefflichen Mann als denjenigen, dem er nach seinem Vater am Meisten verpflichtet sei.

Zwanzig Jahre alt (im Jahre 1842) kam Moleschott nach Heidelberg, um hier Medizin zu studiren. Dies aber nach seines Vaters und seiner eigenen festen Ueberzeugung: daß jetzt für den Mediziner alles Heil in einer gründlichen Beschäftigung mit Chemie und Physik zu suchen sei. Dabei hatte er auch schon das Bewußtsein, daß das Studium der Psychologie, oder noch lieber gesagt: der Anthropologie, die Hauptaufgabe seines Lebens sein würde. – Dieses Bewußtsein hat sich denn auch zu glänzender That gestaltet. Die Professoren Tiedemann und Bischoff nahmen sich des eifrigen Studenten besonders freundlich an und haben neben seinen übrigen Lehrern am Meisten dazu beigetragen, ihn mit der naturwissenschaftlichen Methode bekannt zu machen. – Alle Freistunden der ersten dieser Studienjahre verwendete Moleschott auf den von ihm leidenschaftlich verehrten Hegel und hat dieses Studium jedenfalls auch mit zu jener gewaltigen Logik, jener eisernen Consequenz beigetragen, die wir in den Werken Moleschott’s bewundern, die seine Feinde ihm noch weniger verzeihen mögen, als seine Ansichten, seine ganze Richtung.

Im Jahr 1845, am 22. Januar, wurde Moleschott zum Doctor der Medizin, der Chirurgie und Geburtshülfe ernannt: seine Doctordissertation handelte über den feineren Bau der Lungen. Einige Wochen vorher, am 6. Dezember, wurde von der Universität zu Harlem seine „Kritische Betrachtung von Liebig’s Theorie der Pflanzenernährung“ mit dem goldenen Ehrenpreise gekrönt. Im Mai ließ sich Moleschott als praktischer Arzt in Utrecht nieder. Zugleich aber lernte er in der Chemie praktisch arbeiten unter der vortrefflichen Anleitung, die ihm in Müller’s berühmtem Laboratorium zu Theil wurde. Außerdem noch machte er fleißig physiologische Untersuchungen, zum Theil in Gemeinschaft mit seinem Freunde Donders und diese Arbeiten gaben Veranlassung zur Herausgabe der „holländischen BeitrÄge zu den anatomischen und physiologischen Wissenschaften,“ in Gemeinschaft mit Donders und van Deen, den beiden ersten Physiologen Hollands. Die rastlose Thätigkeit, der außerordentliche Wissenschaftsdrang des genialen Mannes ließ ihn aber auch die unsterblichen Werke Spinoza’s und Feuerbach’s studiren; beide führten ihn von seiner grenzenlosen Verehrung Hegel’s ab und namentlich war es Feuerbach, der ihm den siegenden Uebergang von der abstrakten Philosophie zu den Naturwissenschaften mit erkämpfen half.

Zu Ostern 1847 habilitirte sich Moleschott in dem ihm lieb und theuer gewordenen Heidelberg als Privatdozent; anfangs nur für physiologische Chemie und Diätetik, später für Experimentalphysiologie und Anthropologie, so wie für allgemeine und vergleichende Anatomie. Im Sommer 1853 gründete er ein physiologisches Laboratorium, das sich sehr zahlreichen Besuches zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_411.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)