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und Pulver verwandeln wird, wenn es jetzt dem alten Friedensfürsten nicht gelingt, parlamentarische Mäßigung und Selbstbeherrschung als Oel über das Meer der stürmischen Parteileidenschaften zu gießen. Espartero hat das beinahe Unmögliche zu schaffen, zwischen republikanischen und absolutistischen Parteien, Gemäßigten und Exaltirten, rangneidischen Generalen und Stellenjägern und Verschwörungsmachern einen Thron aufrecht zu erhalten, der durch die eigene Schuld derer, die ihn aufrecht zu erhalten das meiste Interesse hatten, tief erschüttert ist.




Amerikanische Briefe.
IV. Boston. Montreal.
Boston. – Amerikanische Nüchternheit. – Eisenbahnfahrt nach Albany. – Sonntagsfeier daselbst. – Ein Badeort. – Montreal. – Das Innere der Stadt. – Die Victoria-Brücke. – Ein französischer Ritter.

In etwa dreißig Stunden liefen wir von Halifax nach Boston herunter, ohne etwas besonders Merkwürdiges zu sehen und zu erleben. Wir landeten unter anständigem Mondschein in Ost-Boston, einer kleinen Insel vor der Stadt selbst, in welche wir uns auf einem Fährboote übersetzen lassen mußten. Die Zöllner, die auch hier noch ihr Wesen treiben, waren in Untersuchung der Gepäcke wenigstens ungemein schnell und höflich, so daß ich bald in einer der wartenden Droschken nach meinem Hotel abfahren konnte. Ich hielt mich zu kurze Zeit in Boston auf, als daß ich mehr von dieser berühmten Gelehrten- und Quäkerstadt Amerika’s geben könnte, als allgemeine Eindrücke. Die Stadt sieht sehr ehrbar und reinlich aus, wie ein alter, englischer Gentleman. Häuser, Straßen, Pflaster, Leute aller Stände sehen reinlich, gut gekleidet, geschäftig und nüchtern aus, nüchtern in des Wortes verwegenster Bedeutung. Einen Betrunkenen würde man hier wie eine vorsündfluthliche Merkwürdigkeit anstaunen und Entree dafür zahlen. Diese in Amerika wenigstens unter den Eingebornen zur Nationaltugend (und wahrscheinlich zum allgemeinen Landesgesetz) sich erhebende Nüchternheit ist ein ungeheurer Sieg der Civilisation und giebt der neuen Welt drüben allein ein unbesiegbares Uebergewicht über die alte, besonders England, wo der weise Staat den Bier- und Branntwein-Cultus der Abgaben wegen in aller Christlichkeit so zärtlich begünstigt, daß die Tempel der Trunkenbolde, die aus eben so viel Weibern und Kindern als männlichen Individuen bestehen, weder Tag noch Nacht, wenigstens giebt es unzählige Häuser der Art, die auch Concession für die Nacht haben, noch Sonntags geschlossen zu werden brauchen, während Staat und Kirche nicht dulden, daß Sonntags anständige Geschäfte, Concertgärten, der Krystall-Palast u. s. w. geöffnet werden. Diese würden nämlich den Besuch der Bier- und Branntweintempel beeinträchtigen! –

Freilich auch die ununterbrochene amerikanische, wässrige Nüchternheit gefällt mir nicht. „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann,“ er hat kein Gemüth, er ist ein kalter Egoist, dem das Herz niemals warm wird, der nüchtern bleibt, damit er nicht unwillkürlich warm werde und ungeschäftsmäßig etwas zu viel sage, fühle oder verspreche. Jeder anständige Mensch wird überall den Säufer tief verachten, aber etwas himmelweit Verschiedenes ist der Kreis von Freunden und Familien, wo festlich erfreuliche Veranlassungen das Herz treiben, sich in ganzer Fülle und Wärme zu offenbaren. Es ist hierbei ganz natürlich und schön, etwas guten Spiritus oder Rebensaft auf die Vestalampe des Herdes und Herzens zu gießen, um der Natur zu Hülfe zu kommen. Bildung und Anstand werden hier stets das richtige, schöne Maß einzuhalten wissen, damit man die Freuden eines Abends nicht mit auf den Hund gekommenen Katzenjammer bezahle. Aber die Nüchternheit als Nationaltugend und gar als Staatsgrundgesetz ist als Gegensatz zu Personen, die niemals nüchtern werden, vielleicht eben so ekelhaft, als immerwährender Dusel. Das klingt stark, aber ich sahe es in dem Riesenhotel „Revere House“ mit mehr als dreihundert Zimmern, wo ich mit an table d’hôte saß. Von den zweihundert Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, die über eine Stunde lang zusammen sehr gründlich, sehr anständig, sehr feierlich aßen, hörte ich während der ganzen Zeit kein herzliches Wort, kein freudiges Ausrufen, kein Weinglas, keinen Champagnerpfropfen sich erheben. Jeder „Mitesser“ war ein Esser für sich, Jeder mit einem besondern Speisezettel, von dem er nach dem Seitentischchen hin, wo die Kellner, mit den Vorräthen standen, seine Befehle nur für sich gab und immerwährend Wasser dazu trank.

Bei aller Politur nur thierische Fütterung ohne Geist. Könntet ihr ihn ohne Wein sprudeln lassen, desto geistvoller würdet ihr sein, aber ihr habt mitten in eurer Gelehrtenstadt nicht einmal Geist genug, ein Glas Wein zu fordern, und nicht Muth und Menschenliebe genug, um mit eurem besten Freunde herzlich anzustoßen.

Ich beschloß, sofort auf einer der acht Eisenbahnen, die Boston nach allen Richtungen in’s Land hinein umstrahlen, die wässerige Stadt zu verlassen. Ich wählte die Albany-Bahn, die mit vielen durch den Befreiungskampf berühmten Ortschaften in Verbindung bringt und Boston zum commerciellen Rivalen New-Yorks erhebt, da sie einen bedeutenden Verkehr mit den westlichen Gegenden und den großen Seeen erleichtert, ohne welchen kein amerikanischer Hafen über lokale Mittelmäßigkeit steigen kann. Der Westen! Welche Pläne werden täglich geschmiedet, welche Anstrengungen gemacht, um sich einen Antheil an dem Transport seiner Schätze zu sichern! Groß sind sie schon jetzt und von europäischer Wichtigkeit, aber unberechnenbar bedeutungsvoll in der Zukunft!

Die zweihundert englischen Meilen von Boston bis Albany legten wir in acht Stunden zurück – Alles für fünf Dollars. Es war meine erste amerikanische Eisenbahnfahrt und deshalb mir Alles neu. Unter einem bedeckten Schuppen hervor schossen wir über die offene Straße, deren Bevölkerung blos durch die Klingel an der Loccmotive ermahnt ward, aufzupassen, wenn sie nicht vorzögen, sich rädern zu lassen. Und so leichtsinnig ging es fort durch Stadt und Land, zweihundert Meilen lang, hier mitten durch ein Dorf, dort mitten durch eine Stadt, über Kreuzwege mit Fußgängern und Lastwagen – nirgends mit einer andern Polizei, als großen Brettern hier und da, auf welchen zu lesen war: „Sieh auf, wenn die Glocke an der Locomotive tönt!“ Wenn Einer dies zu spät thut, hat er sich als freier Amerikaner selbst Vorwürfe zu machen, daß er todt ist. Die Waggons sind ungeheuer lang, mit Fenstern, die mit polirten Mahagoniwänden abwechseln. An den Decken findet man viel Dekorationen und unter den Füßen farbige Teppiche. In jeder hatten achtundfünfzig Passagiere auf zwei Reihen, mit rothem Plüsch überzogenen Armstühlen komfortablen Platz. Der Gang in der Mitte führt nach zwei Thüren, vorn und hinten, die auf Plattforms hinausführen, auf welchen man den ganzen Zug entlang, mitten im Zuge – von Waggon zu Waggon gehen und auch herunterfallen kann, ohne daß Jemand etwas dagegen hat. In der Mitte jedes Waggons steht ein niedlicher Ofen, der mit Holz geheizt im Winter die größte Wärme verbreitet, so daß sich Niemand einzupacken braucht. Alle Waggons sind Eine Klasse. Das wäre eine große Thatsache, wenn nicht alle Personen, die etwas Farbe haben, viel niedriger behandelt würden, als bei uns die dritte von der ersten Klasse. Die Sklaverei in den südlichen Staaten hält deshalb so fest, weil sie von den nördlichen social und moralisch auf die blödsinnigste Weise so handgreiflich unterstützt wird. Das ist ein Schandfleck im amerikanischen Charakter, der durch alles Waschen und Wassertrinken nicht gebleicht wird.

Die lange Fahrt durch Massachusetts gab Gelegenheit, den Charakter des Landes gehörig zu überblicken. Es ist wellenförmig, im Ganzen ärmlich mit traurigem Buschwerk und Granitmassen, sandigen Ebenen und endlosen Massen von Teichen und Seen abwechselnd. Deshalb bemühen sich auch nur Wenige, dem unfreundlichen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_423.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)