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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Masse heimathlosen, tagedieberischen und entsittlichten Gesindels auf diese Weise von Ort zu Ort, von Land zu Land hin- und hergeschoben und allenthalben gleichsam für vogelfrei erklärt wurde, desto roher, wüster, leichtsinniger und gewaltthätiger mußte sie natürlich werden.

In Baiern mußte man noch vor etwa siebenzig Jahren vier Regimenter Cavallerie aufbieten, um die über das ganze Land verstreuten fremden Bettler aufgreifen zu lassen, weil die gewöhnlichen Behörden, die Bettelvoigte u. s. w., sich als ganz unzureichend dafür erwiesen. In Schweden gab es einen förmlichen „Bettlerorden,“ dessen Mitglieder aus dem Betteln ein stehendes Geschäft machten und, obschon rüstige und gesunde Leute, doch vom Arbeiten nichts wissen wollten, weil, wie sie sagten, sie solches nicht gelernt hatten, und da sie beim Betteln sich besser standen, da ihnen dies, wie man ausrechnete, täglich etwa sechs Neugroschen im Durchschnitt einbrachte. In Leipzig wurden noch im Jahre 1803 fast 1200 Thaler öffentliche Almosen an fremde herumziehende Bettler – 8438 der Zahl nach – gegeben. Auch Personen der höhern oder sogenannten gebildeten Stände schämten sich nicht, von anderer Leute Wohlthätigkeit zu leben; selbst Adelige und Studirte gingen häufig „ansprechen,“ besonders bei Ihresgleichen. Es kam auch wohl vor, daß ein solcher adeliger Bettler zwar auf allen Edelhöfen umherlungerte und keine Gabe, die man ihm dort reichte, verschmähte, aber um Alles nicht einen Zehrpfennig von einem Menschen ohne Geburt angenommen hätte. Das gab dann ein doppeltes Zerrbild damaligen Zeitlebens! Den Edelhöfen in der Nähe der Landstraßen wurden in manchen Ländern, z. B. im Hannövrischen, durch ausdrückliche Regierungsverfügungen die verabschiedeten Soldaten (bekanntlich damals meist geworbene Leute und häufig Ausländer) förmlich zur Unterstützung durch Almosen zugewiesen. Im Uebrigen waren es die Landgeistlichen, besonders die protestantischen, welche am Schwersten unter der Plage des Bettelns zu leiden hatten. Was in den katholischen Ländern Kirchen oder Klöster aus ihren reichen Mitteln, oft nur zu freigebig und mit zu wenig sorgfältiger Auswahl thaten – ward in den protestantischen von den Geistlichen verlangt, und es war für diese schwer, sich solcher Zumuthungen an ihre „christliche Mildthätigkeit,“ auch wenn diese noch so unverschämt waren, zu erwehren. So ein unglücklicher Pfarrer mußte von seinem schmalen Einkommen, welches vielleicht in Allem kaum ein paar hundert Thaler betrug, nicht selten (so versichern glaubwürdige Gewährsleute aus der damaligen Zeit) 40–50 Thaler jährlich an Almosen ausgeben.

Aber that man denn gar nichts, um diesem furchtbaren Krebsschaden der Gesellschaft abzuhelfen? Wohl that man Manches, nur leider nicht auf die rechte Weise. Die Kunst des rechten, fruchtbringenden Wohlthuns will ebenso gut gelernt sein, wie jede andere Kunst. Damals verstand man diese Kunst noch viel zu wenig. Ein großes Hinderniß guter Armenpflege war schon der Mangel einer ordentlichen Heimathsgesetzgebung, der sich in jener Zeit allerwärts fühlbar machte. Weil kein bestimmter Ort verpflichtet war, einen Verarmten aufzunehmen und zu verpflegen, so glaubte ein solcher, seine diesfalsigen Ansprüche an jedem Orte geltend machen zu dürfen; auf der andern Seite versagte man oft auch den wirklich Unglücklichen und Hülfsbedürftigen die nothwendigste Unterstützung und gab sie damit dem unvermeidlichen Untergange preis. So war es in vielen Staaten Deutschlands lange Zeit allgemein hergebrachte Sitte, fremde Arme, welche unterwegs erkrankten, mit einer sogenannten „Krüppelfuhre“ auf dem Schub an den nächsten Ort zu schaffen, wo sich natürlich dasselbe Verfahren wiederholte, so daß ein solcher Unglücklicher oft Wochen lang bei der schlimmsten Witterung, auf den bodenlosen Wegen hin- und hertransportirt ward, bis er gewöhnlich unter Martern und Leiden seinen Geist aufgab. Erst etwa im letzten Dritttheil oder Viertheil des vorigen Jahrhunderts entstanden, wenigstens in den größern deutschen Staaten, die Anfänge einer geregelten Heimath- und Armengesetzgebung, und damit hörte denn auch jener barbarische Gebrauch allmälig auf. Indeß brauchte es noch lange Zeit, bevor eine wirklich erfolgreiche Behandlung des Armenwesens in Deutschland Wurzel schlug. Die Noth mußte erst aufs Höchste steigen (so namentlich durch die furchtbare Theuerung der Jahre 1771–72 und wieder durch den harten Winter von 1784), und andererseits mußte die Wissenschaft von den volkswirthschaftlichen Gesetzen sich erst weiter ausbreiten, und der lange unterdrückte Gemeingeist wieder einigermaßen aufleben, ehe an eine nur irgend gründliche Abhülfe des so tief gewurzelten Uebels zu denken war. Denn mit dem bloßen Geldgeben war es so wenig gethan, als mit dem bloßen Befehlen und Anordnen von oben. An dem Ersteren hatte es schon lange nicht gefehlt, ja es war vielleicht nur zu viel in dieser Richtung geschehen, aber, wie schon gesagt, in verkehrter Weise. „Die Summe,“ bemerkt ein Schriftsteller der damaligen Zeit, „welche öffentliche und Privatwohlthätigkeit der Armuth widmete, wäre mehr als hinreichend zu dieser Absicht gewesen, wenn nur nicht eine unrechte Vertheilung sie meistentheils blos als einen Lohn für Faulheit, Müßiggang, Unverschämtheit und Unehrlichkeit verwandelt hätte, wodurch neue Geschlechter von Nothleidenden entstanden, die an eine sittenlose, lasterhafte Lebensart gewöhnt und für diese erzogen waren.“

Fragen wir, durch welche Mittel es endlich gelang, jener furchtbaren Pest eines aller Schrecken und aller Gesetze spottenden Bettelwesens wenigstens so weit Herr zu werden, daß es, wie heutzutage in den meisten Gegenden Deutschlands, zumal Norddeutschlands in gewöhnlichen Zeiten nur als vereinzelte Erscheinung, nicht massenhaft auftritt, und bei thatkräftigem Eifer der Behörden, der Gemeinden und der Privaten recht wohl gänzlich unterdrückt werden kann, so tritt hauptsächlich Folgendes entgegen. Das Erste und Wichtigste war, daß man die Bettler, statt sich ihrer nur für den Augenblick entweder durch Almosengeben oder durch Fortjagen zu entledigen, zur Arbeit anhielt, und auf diese Weise nach und nach gänzlich ihren herumschweifenden, müßiggängerischen Lebens entwöhnte. Den noch nicht ganz verderbten, noch arbeitslustigen und nur aus Mangel an Erwerb bettelnden Armen suchte man solchen zu verschaffen, meist in öffentlichen Anstalten, wo auf Staatskosten allerlei Gewerbe betrieben wurden; die arbeitsscheuen und faulen sperrte man in Zwangsarbeitshäuser. Besonders in Preußen geschah Letzteres, und trug bald seine guten Früchte. Daneben erwies es sich als sehr wohlthätig, daß man die Armenpflege localisirte, d. h. Einrichtungen traf, damit jeder Ort die ihm zubehörigen Armen versorgte und diese nicht andern Orten zur Last fielen. Bekanntlich hat gerade in dieser Richtung die neuere Gesetzgebung über das Armen- und Heimathwesen eine ganz besondere Sorgfalt aufgewendet; die Anfänge dazu finden wir aber doch schon in mehren deutschen Staaten vor siebenzig, achtzig Jahren. Eine andere höchst wirksame Maßregel zur Verbesserung des Armenwesens war die sorgfältige Ueberwachung der einzelnen Armen, die genaue Prüfung ihrer größern oder geringern Hülfsbedürftigkeit, die fortwährende Controle ihres Verhaltens und die richtige Bemessung der jedesmal am Meisten nothwendigen und am Besten angebrachten Art von Unterstützung (ob in Geld, Nahrungsmitteln, Kleidung oder bloßer Arbeitsgelegenheit).

Diese Maßregel aber, ebenso wie die Einsammlung von freiwilligen Gaben für die Zwecke der Armenpflege, wäre schwerlich mit nur einigem Erfolge auszuführen gewesen, ohne die thätige Mitwirkung von Einzelnen und Vereinen, welche theils auf eigene Hand, theils im Anschluß an die Wirksamkeit der öffentlichen Behörden sich dieses wichtigen Geschäftes der Humanität annahmen. Die Anfänge einer solchen organisirten Theilnahme der Privaten an der öffentlichen Armenpflege (einer Einrichtung, welcher wir unzweifelhaft die erfreulichsten Fortschritte auf diesem Gebiete zu danken haben) reichen ebenfalls bis in das vorige Jahrhundert, zum Theil noch weiter zurück, wenn auch deren weitere Ausbildung und Vervollkommnung erst der neueren Zeit angehört. Eigenthümlich dagegen ist dieser Letzteren Bestreben, den ärmeren Klassen mehr indirect als direct die Hand zu ihrer Emporhülfe, zur Beseitigung oder Linderung ihrer Noth zu bieten, so viel möglich ihre eigene Thätigkeit und Betriebsamkeit dafür eintreten zu lassen, und dieser nur entweder die nöthige Leitung zu geben oder die ihr entgegenstehenden Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Früher hielt man für nothwendig (und damals mochte es auch wohl nothwendig sein), den arbeitsfähigen Armen direct Arbeit und Verdienst zu gewähren – von Staats- oder Gemeindewegen –; jetzt beschränkt man sich (außerordentliche Zeiten der Noth abgerechnet) in der Regel darauf, denselben Arbeit nachzuweisen, und die in den letzten 10–20 Jahren errichteten Arbeitsnachweisungsanstalten haben sich als ein treffliches Mittel zur Linderung örtlicher Armuth und Erwerbslosigkeit erwiesen. In größerem Maßstabe geschieht Aehnliches wohl auch von Staatswegen durch Einführung neuer Industriezweige.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_447.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)