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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

gegen den Junker anhängig gemacht habe. Laut einer darin befindlichen Bestimmung mußte der Erbe dem Junker eine jährliche Rente von sechshundert Thalern zahlen. Ernst war der legitime Besitzer eines großen Vermögens, und der glückliche Gatte der reizenden Klementine. Der Junker war verreist, als die jungen Gatten das Haus unter den Linden bezogen. Herr Thaddäus, Fritz und Doris hatten die Ausstattung vervollständigt.

An der Hand Ernst’s betrat Klementine das Boudoir. Die junge Frau begann laut zu weinen, als sie einen Blick in den kostbaren Raum geworfen hatte. Dann sank sie ihrem Manne an die Brust.

„Siehst Du den Teppich, den Ofenschirm und den Wandkorb?“ fragte sie.

„Ja, mein Kind!“ flüsterte Ernst, indem er die Stirn Klementine’s küßte.

„Als ich noch arm war, bestellte man Stickereien für eine Braut – auf diese Blumen ist manche Thräne gefallen, und manche schlaflose Nacht habe ich der Arbeit geopfert – ich dachte an Dich, Ernst, und beneidete die glückliche Braut. Die arme Klementine ahnte damals nicht, daß sie an der Ausschmückung ihres eigenen Brautgemachs arbeitete – arbeitete für Geld!“

Ernst küßte die kleinen Hände seiner Gattin.

„Jetzt wandle auf den Blumen, die Du gepflanzt, und kann die Liebe sie Dir ewig frisch erhalten, dann, Klementine, zweifele nicht daran, daß sie ewig blühen!“




Ein Asyl für die Armuth.


Wohl selten mag sich’s treffen, daß wie auf der im Untersee gelegenen badischen Insel Reichenau eine Bevölkerung von 1500 Seelen keinen einzigen Armen aufzuweisen hat, keinen Menschen, der von fremder Unterstützung leben muß. Jene Spanne Landes

Das neue Armenhaus in Leipzig.

bildet eine Ausnahme, anderwärts werden wir überall Schritt für Schritt an Noth und Armuth erinnert, leider ist es ein betrübendes Merkmal unserer Zeit geworden, daß die Verarmung der Massen mehr und mehr zunimmt, und damit die Hülfe der Gesellschaft, des Staats, der Gemeinden von Tag zu Tag stärker in Anspruch genommen wird. Die Maßregeln, wie jener Verarmung vorzubeugen, sowie die andern, welche es mit den Folgen und Zeichen dieses Uebels zu thun haben, sind, so wenig sie in einander greifen, doch von gleich hoher Wichtigkeit. Geschah in ersterer Hinsicht bisher wenig, weil zumeist Alles erst theoretisch zurecht gearbeitet werden mußte, so wurde in zweiter dagegen desto mehr geleistet, wobei nächst der allgemeinen Menschenliebe auch verschiedene andere Motive die mitbestimmenden waren. Die Armenpflege, um welche es sich hier handelt, ist der Gegenstand der sorgfältigsten Erwägungen geworden, und die Wohlthätigkeitsanstalten bilden ein bedeutendes Departement der innern Verwaltung.

Eine der ersten Stellen in der geordneten Armenpflege nehmen die Armenhäuser ein, und wenn es an und für sich eine traurige Erscheinung ist, daß man in den Städten kolossale Bauten zur Unterbringung der Armen überhaupt aufführen muß, so ist bei der einmal erkannten Nothwendigkeit nicht weniger die systematische Trefflichkeit zu bewundern, zu welcher es dabei gebracht worden ist. So sieht man jetzt bei einem Spaziergange auf der östlichen Seite Leipzigs ein Gebäude von festen und markigen Formen sich hoch empor über seine Umgebungen erheben; auf den ersten Blick schon kündigt es sich als ein öffentliches Gebäude an, und die etwas vereinsamte Lage läßt es vielleicht auch den Beschauer bald als das errathen, was es ist: das neue Armenhaus der Stadt Leipzig, zu welchem am 29. März v. J. der Grund gelegt wurde und das jetzt in meisterhafter Vollendung dasteht.

Wir führen heute die Leser der Gartenlaube in die Hallen desselben, und wenn es auch nicht gerade ein kurzweiliger Gang

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_456.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)