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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Schon bei meinem ersten Gange vom Hotel nach dem österreichischen Consulat in Pera machte mich der Wirth, mein Führer, mit diesem Maltesergäßchen bekannt, und zu meinem eben nicht angenehmen Erstaunen sah ich, daß dasselbe gerade in die Straße meines Hotels mündete und sich höchstens 150 Schritte von diesem befand.

„Sehr angenehm für Ihre Gäste, diese Nachbarschaft,“ sagte ich zum Wirth.

„O, es hat nichts zu bedeuten, meinte dieser, „am Tage ist diese Gasse ja unschädlich und Abends gehen meine Gäste wenig aus; übrigens ist seit Kurzem ein Nachtwächterposten diesem Gäßchen gegenüber aufgestellt.“

„Erlauben Sie mir die Bemerkung, Herr M.,“ antwortete ich auf diese naive Aeußerung, „daß ich gerade des Abends auszugehen pflege und in so fern also eine Ausnahme von Ihren übrigen Gästen machen werde. Uebrigens hat diese Nachbarschaft, was mich betrifft, wirklich nichts zu bedeuten, sie ist mir im Gegentheil ganz interessant.“

Nichtsdestoweniger war ich mit dieser Nachbarschaft bald doch nicht so einverstanden, wie ich vorgegeben hatte; mein Weg führte mich stets nach Pera hinauf, und ebenso war es eine meiner liebsten Zerstreuungen, die Abende auf dem piccolo campo, auf der Höhe von Pera, zu verbringen und von dort über den sich tief hinabgehenden Kirchhof mit seinen geheimnißvollen dunklen Cypressen und über das im Mondenschein glitzernde goldne Horn nach Stambul hinabzuschauen, das sich dann wie eine im Mondlicht gehüllte vielgestaltige Masse vor mir ausbreitete. Mein Weg nach Galata zurück war in später Nacht kein angenehmer, zumal ich in der Regel meine Papierlaterne nicht bei mir zu haben pflegte. Die nach Galata steil hinabführende, kaum fünf Fuß breite Straße war schon bei Tage halsbrechend genug, bei Nacht aber, wenn die niedrigen Vordächer der Häuser keinen Schimmer des Mondes hereinließen, war sie kaum zu passiren; mühsam muß man an den Häusern hinabtappen und jeden Augenblick riskiren, über einen schlafenden Hund oder einen Kothhaufen zu stolpern. Noch wenig orientirt in den engen Gassen, welche sich in Galata unten nach beiden Seiten hinziehen, war es dann in der Regel mein Schicksal, mich in denselben zu verlaufen; zwei-, dreimal riefen mich türkische Wachen oder Nachtwächter an, denen ich (ohne Laterne) Rede stehen mußte, und wenn ich dann endlich meine Straße erreicht, hatte ich nicht ohne einiges Unbehagen an dem Maltesergäßchen vorbei zu gehen, das mir auf Grund von allerlei albernen oder vernünftigen Erzählungen ziemlich unheimlich geworden war. Die Gassen eines Dorfes können Nachts nicht so todt und finster sein, wie diese riesige Weltstadt, die sich schon nach Sonnenuntergang zu entvölkern beginnt und in der man am späten Abend keiner sterblichen Seele begegnet.

Am vierten Tage meiner Anwesenheit in Constantinopel kehrte ich schon um neun Uhr Abends mit Carmond vom piccolo campo zurück; unser Weg führte uns in der steilen Galata-Straße an der „London-Tavern“ vorbei, in welcher Carmond vorzüglichen Wein entdeckt, und in welcher er gern einzukehren pflegte. An zu Bette gehen wurde von uns noch nicht gedacht, wir traten in diese Taverne und fanden in dem Zelt im Hofe eine kleine Gesellschaft von Männern der verschiedensten Nationen, welche mit dem edlen Hazardspiel beschäftigt war. Eh’ ich mich dessen versah, hatte Carmond an demselben Theil genommen und seine mit englischen Lires gefüllte Börse vor sich auf den Tisch gelegt. Ich schaute mit Vergnügen zu; Carmond schien Glück zu haben und blieb im Glück, bis ich mich von ihm trennte, um noch einem hannöverschen jungen Arzte im Hotel Adieu zu sagen, der am andern Morgen zur anatolischen Armee abgehen sollte. Es war elf Uhr, als ich das Hotel erreichte, auch Carmond’s Weg nach Hause war kein weiter, da er in einer der angrenzenden Gassen wohnte.

Eine Stunde saß ich mit dem Dr. L. auf der Veranda im Hofe des Hotels, als wir hastig und stark mit dem Klopfer der Hausthür lärmen und einen lebhaften, abgebrochenen Wortwechsel auf der Straße hörten. Der Hausknecht und der Cameriera eilten hinab, um zu öffnen, denn sie waren die einzigen, die außer uns noch im Hotel wachten – Carmond wankte athemlos in die Veranda und warf sich neben uns auf die Bank: er war bleich, ohne Kopfbedeckung und preßte die Hand krampfhaft in die Hüfte. Ich glaube, ich war bleicher als er, als ich meinen sonst so aufgeräumten Freund in dieser Verfassung sah, und bestürmte ihn mit Fragen. Er nahm die Hand von der Hüfte, sie war blutig. Jetzt sprang auch Dr. L. auf; da Carmond so athemlos war, daß er nicht sprechen konnte und nach Luft schnappte, so untersuchte L. schweigend seine Hüfte und zeigte mir einen Messerstich, den Carmon hinterrücks zwischen der letzten Rippe und dem Hüftknochen erhalten, der jedoch nur die Oberfläche des Fleisches gestreift hatte. Carmond litt offenbar mehr an den Folgen seines panischen Schrecks als an heftigem Schmerz, da die Wunde nicht gefährlich sein konnte.

Das ganze Haus wurde nun wach getrommelt, L. legte dem jungen Franzosen einen leichten Verband an und dieser kam wieder zu sich. War die Sache nicht gefährlich, so war sie doch äußerst interessant; das ganze Ereigniß war Folgendes: Carmond hatte mit anhaltendem ziemlichem Glück gespielt und etwa zwanzig Lires gewonnen. Die Gesellschaft hatte sich um halb zwölf Uhr aufgelöst und Carmond hatte mit einem der Herren, der sich für einen Syrioten ausgegeben und sehr elegant gekleidet war, zusammen den Weg nach Galata hinab eingeschlagen, auch dessen weitere Gesellschaft gern angenommen, als er auf die Frage des Syrioten geantwortet, daß er seine Straße zwar nicht genau kenne, sie jedoch zu finden hoffe. Unten angekommen hatte der Fremde, in demselben Moment, wo sie die Keule des Nachtwächters nach der entgegengesetzten Richtung, also sich entfernend, auf dem Pflaster gehört, Carmond plötzlich an der Ecke aufgehalten und ihm eine kurze Anekdote in der Dunkelheit erzählt. Der Nachtwächter hatte sich entfernt und beide waren um die Ecke in die Straße eingebogen, in welcher mein Hotel sich befand, was aber Carmond nicht beobachtet hatte, da er über seine Straße bereits hinaus war. Plötzlich war sein Begleiter ihm von der Seite verschwunden, Carmond stand einen Augenblick da, um sich zu orientiren, und sah dann in dem Gäßchen, vor welchem er stand, einen Schatten, in welchem er seinen Begleiter zu erkennen glaubte. Er eilte ihm nach in die Gasse und rief ihn an, um von ihm, der sich so ungalant entfernt, wenigstens zu erfahren, wohin er selbst sich jetzt wenden müsse. Der Schatten war ihm vor den Augen verschwunden, in demselben Moment aber erhielt er hinterrücks den Stich und wurde durch diesen zu Boden geworfen. Ein schneller Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, der Gedanke an das Maltesergäßchen, von dem noch heute zufällig bei Gelegenheit eines an einem Engländer verübten Mordes die Rede gewesen. Gewandt wie er war, raffte er sich auf, stürzte aus der Gasse, lief die Straße hinab und wurde hier von einem aus dem Dunkel hervortretenden Nachtwächter angehalten, der ihm die Keule vor die Füße setzte und zu wissen verlangte, wer er sei. Hier hatte sich denn, als Carmond dem Nachtwächter französisch antwortete und dieser ihn hartnäckig nicht verstehen wollte, endlich ein Wortwechsel entsponnen, der Carmond vollends außer Athem brachte und damit endete, daß er den Nachtwächter bei Seite schob, auf das Hotel zu sprang, dessen bis mitten auf die Straße Hangendes Schild er erkannt, und heftig mit dem Klopfer lärmte. „Sacre nom de Dieu, Monsieur, laissez moi et saisez vos meurtriers!“ schrie Carmond, als ihn der Nachtwächter auch dahin verfolgte, und fing von neuem an, mit dem Klopfer Sturm zu läuten. Jetzt war der Cameriera in der Hausthür erschienen, hatte dem Nachtwächter erklärt, daß der Herr in diesem Hotel wohne, und somit war Carmond salvirt – seine Börse aber war verschwunden und wahrscheinlich während der Anekdotenerzählung ihm von seinem Begleiter, dem Syrioten, aus der Tasche escamotirt worden. Wie sich die Sache mit dem Schatten verhielt, dem Carmond nachgelaufen, das blieb räthselhaft; Carmond behauptete, es sei der Syriote gewesen und er und kein Anderer habe ihm den bewußten Stahlstich versetzt. Während der Nacht, die er in meinem Zimmer verbrachte, fluchte er ein „sacristi“ nach dem Andern über den Syrioten und schwor, daß er den Kerl wiederfinden wolle und sollte er ihn auch am andern Ende der Welt suchen; ebenso wollte er am andern Morgen auf eine polizeiliche Untersuchung des Vorfalls dringen. Kluge Leute aber riethen ihm erstens: den Syrioten ruhig laufen zu lassen, ja ihm sogar aus dem Wege zu gehen, wo er ihn finde, damit er sich nicht neuen Verfolgungen aussetze; und zweitens: die Sache nicht anhängig zu machen, da Alles, was in der Türkei ohne Zeugen geschehe, überhaupt gar nicht geschehen ist. – Carmond hatte übrigens sowohl seine unbedeutende Wunde als seine Börse bald

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