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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

6 Thaler, (das Postgeld allein betrug auf 12 Meilen 4 Thaler), das ist viermal mehr als gegenwärtig – ungerechnet den mehr als sechsfach größern Zeitaufwand. Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so beträchtliche Verringerung haben die Kosten des Briefverkehrs erfahren. Durchschnittlich kann man annehmen, daß heut zu Tage ein Brief nur die Hälfte von dem kostet, was man ehemals dafür bezahlte.

Welch’ ungeheuere Vortheile sind aus diesen mannigfachen Verbesserungen unseres Transportwesens und unserer Mittel der Gedankenmittheilung für die Annehmlichkeit, Bequemlichkeit, ja Sicherheit des Lebens, für das materielle Wohlbefinden in jeder Beziehung, für den geschäftlichen Verkehr, endlich für die allgemeine Bildung der Menschen, für die Verbreitung und Verallgemeinerung von Ideen, Erfahrungen und Kenntnissen aller Art, für die Annäherung der verschiedenen Individuen und Volksstämme unter einander, für die Beseitigung localer Vorurtheile und nationaler Antipathien, kurz, für die immer vollkommenere Erreichung jenes großen Kulturzweckes hervorgegangen, welcher dem Menschen als das Ziel seiner irdischen Bestrebungen und Anstrengungen vorgesteckt ist!




Londoner Lebens- und Verkehrsbilder.
Zweimal vor dem Polizei-Gericht.

Ohne eigentlich zu wissen wie, war ich in einem Theile des Westendes Sprachlehrer, Dolmetscher und Freund in der Noth, deutscher Tischler geworden, besonders einer ziemlichen Menge, die alle bei einem englischen Bäcker zu je Zweien alle dessen Schlafstellen einnahmen. Der Eine hatte sich in die Tochter verliebt, ohne seit 6 Monaten etwas Anderes sagen zu können, als „Guten Morgen, Miß!“ und „Gute Nacht, Miß!“ Mit der Zeit war aber in ihm das Bedürfniß entstanden, seinen heimischen Gefühlen in der Sprache der Angebeteten auf eine beredtsamere Weise Luft zu machen, so daß er beschloß, Unterricht im Englischen zu nehmen. Seine „Schlafcollegen“ besannen sich bei dieser Gelegenheit, daß sie auch öfter in den Fall gekommen waren, mit Engländern zu sprechen und Engländerinnen zu sagen, es sei nicht gut, daß der Mensch allein sei u. s. w. So kamen sie eine Zeit lang sehr eifrig Abends 8 Uhr zu mir, lernten Englisch und wunderten sich über die sonderbaren Gewohnheiten der Engländer, weder auf Vocale, noch Consonanten Rücksicht zu nehmen, sondern von jedem Worte möglichst wenig und dieses Wenige möglichst schlecht und immer so auszusprechen, daß man beim Anblicke des Wortes gar nicht daran denken konnte. Doch was half’s? Die Sache mußte gelernt werden. Und es dauerte gar nicht lange, so waren Einige überzeugt, daß sie im Leben, wie in der Liebe mit dem Erlernten durchkommen würden. Freilich machte der Eine bald die Erfahrung, daß man die deutsche Zunge viel länger mißhandeln muß, um mit ihr die kakophonischen Kunststücke der englischen einigermaßen erträglich und verständlich nachmachen zu köuuen. Er hatte sein junges Englisch öfter angewandt, um den irischen Laufburschen, Leimsieder und dienstbaren Geist im Arbeitslocale schlecht zu machen. Der Junge hatte es entweder nicht verstanden oder innen darüber gelacht oder vielmehr jedesmal darüber gelacht, am Meisten, wenn er’s verstand. So bekam der Junge eines schönen Morgens nicht nur eine Ohrfeige, sondern auch einen Stoß vor die Brust, daß ihm zwei Rippen zerbrachen. Wenigstens lautete die Anklage so.

Also mein Schüler war verklagt und schriftlich vorgeladen, vor dem Polizeigerichte in Great-Marlborough-Street um zwei Uhr Nachmittags zu erscheinen. Blaß und athemlos kam er mit dem Zettel zu mir gelaufen, was eigentlich darin stehe und was hier zu thun sei und daß ich ihm helfen möchte, es möge kosten was es wolle. So wurde ich sein Advokat, Dolmetscher, Vertheidiger, Freund und Rathgeber, ohne zu wissen wie und wo ich alle die dazu nöthige Weisheit hernahm. Nachdem ich mich privatim überzeugt, daß die zerbrochenen Rippen in das Reich der Dichtung gehörten, hielt ich meinen Feldzug gegen den Ankläger für kein zu schwieriges Kunstwerk der Strategie. Mit meinen Hülfstruppen von Zeugen, einem Polen, der wenig Deutsch und gar kein Englisch verstand, einem Ungar, der das Deutsche in seiner eigenen Manier behandelte und das Englische so sprach, daß er sich selbst nicht verstand und einem Böhmen, der in gar keiner Sprache reden konnte und dem Verklagten brach ich zu rechter Zeit nach dem Polizeigerichtslokale auf. Ich wußte nicht, in welchem Hause die Polizei und der Magistrat Recht pflegten. Auf meine Frage, wo es eigentlich sei, bekam ich die praktische Antwort: „Da wo immer allerhand Leute vor der Thür stehen, in der Regel auch ein schwarzer Omnibus.“ Wir fanden allerhand Leute umher stehen und auch den schwarzen Omnibus und traten ein, wurden rechts in einen schmutzigen öden Raum mit einigen zerbrochenen Stühlen und roth gefirnißten Holzbänken gewiesen, wo die künstlich und umsichtig gemachten Fenster nur da Aussichten gewährten, wo gelangweilte Künstlerhände den Firniß abgerieben und dadurch allerhand Figuren und Namen zu Stande gebracht hatten, und instruirt, daß wir hier warten müßten, bis wir aufgerufen würden. Wir warteten zunächst so lange, als wir gelernt hatten zu warten, hernach aber noch länger, viel länger und vertrieben uns die Zeit damit, zu beobachten, was um uns her vorginge. An einem schmutzigen Pulte verkaufte ein Polizeibeamter immer mit’n Hut immerwährend „Vorladungen“ an Jeden, der’s bezahlen konnte und die Hülfe des Polizeigerichts brauchte. Vorgeladene Parteien, Kläger und Verklagte, weinende Weiber mit Kindern, Kinder ohne Aeltern, Wittwen und Waisen, geputzte und zerlumpte, gefaßte und ruhige und tobende und schimpfende Personen gingen aus und ein. Draußen durch die offen stehende Thür sahen wir es immerwährend hin- und herströmen. Polizeibeamte kamen in der bekannten klassischen Position mit Arretirten, die, in Armslänge abwärts am Oberarme gehalten, hereingetrieben wurden. Andere, bösartiger Natur, wurden von 2 Policemen, wie ein intimer Freund, von beiden Seiten unterm Arme gefaßt, hereingeführt oder geschleppt, besonders viel derbe, pfiffig aussehende Jungen ohne Mützen, ohne einen oder den andern Aermel, ohne Sohlen unter den Schuhen oder ohne diese selbst.

Die immerwährend wechselnden Scenen im Polizeigerichtslokale verkürzten zwar unsere Stunden lang ausgedehnte Wartezeit, aber mein Angeklagter, der immer that, als handelte es sich um sein Leben, war inzwischen doch so schwach geworden, daß wir ihn in die gegenüberliegende englische Apotheke, ein Bierhaus, führen mußten, eine Art Vorparlament zu den Verhandlungen selbst. Hier gestärkt, kehrten wir mit neuem Muthe zum Warten zurück und sahen zunächst zu, wie der schwarze Omnibus beladen ward. Durch eine besondere enge Thür wurden Verurtheilte einzeln hineintransportirt und innerhalb des Omnibus einzeln in schilderhausartige Behälter, mit etwas Fenster oben, eingeschlossen. Ein Policeman schloß endlich die Hauptthür, setzte sich daneben in einen für ihn außen angebrachten Sitz und gab dem Policeman vorn das Zeichen zur Abfahrt. Solche schwarze Omnibusse durchkreuzen London alle Tage nach allen Richtungen, wo Gefängnisse stehen. Bei dieser Gelegenheit war es 5 Uhr geworden. Alle Vorgeladenen, die noch übrig waren, darunter wir, wurden rasch hinausgetrieben, die Richter, Assistenten und Diener, die bisher sich zu Allem viel Zeit genommen hatten, wurden eifrig und eilig und stürzten, gierig nach ihrem Mittagsessen, davon, ohne weder links noch rechts zu hören.

Auf den nächsten Freitag wieder um 2 Uhr vorgeladen, kamen wir um 4 Uhr in das Gerichtszimmer selbst, zunächst unter die dichtgedrängten, in einen schmalen Streifen eingezwängten Zeugen und Zuhörer. Vor demselben befindet sich ein schmaler Streifen Raum zwischen Holzwänden für die Angeklagten – lauter Stehplätze, daneben eine Art Katheder, auf welches Jeder treten muß, so lange er eidlich etwas aussagt. Dazu wird er jedesmal durch eine kurze Anrede von einem besondern Beamten vorbereitet, der ihm einschärft, daß er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sage. Daß er dies wolle, bekräftigt er eidlich, jedoch ohne einen Eid zu schwören. An Eidestatt küßt er ein kleines, dünnes, dicht verschlossenes Buch, welches, wie man ihn versichert, das ganze neue Testament enthält. In einem innern, in mehrere

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_501.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)