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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Throne, der „Parlaments-Polizei-Direktor“ auf seinem päpstlichen Stuhle und sonstige seit Jahrhunderten conservirten Aemter und Namen das uneingeweihte, moderne Auge verwirren und ihm bald Stückchen aus alten Ritterschauspielen, bald abenteuerliche Scenen aus einer Posse der Neuzeit zuzusenden scheinen, so ist auch die historische Composition und die gegenwärtige Lage des Parlaments zunächst etwas Räthselhaftes, Ehrwürdiges und Lächerliches, vielleicht auch Tragisches, und dies wahrscheinlich desto mehr, je genauer man es zu kennen glaubt. Die Herren im Unterhause gelten als souveraine Vertreter des souverainen Volks und sind abhängige, durch allerhand verwickelte Interessen getragene Festungsmauern gegen das Volk. Sie sind der Mehrheit nach ganz russenfreundlich und haben Geld und Soldaten und Waffen gegen Rußland bewilligt, womit man die halbe Welt zerstören könnte. Ihre Papiere steigen beim Falle Sebastopols und ihr Jubel erschrickt vor der Theilnahme des Volks an dieser Siegesfreude. Man freut sich als „freier Engländer“ über die Demüthigung Rußlands und fürchtet in der Schwächung desselben die Macht zu Hause, welche das Sebastopol der englischen Gesetzgeber, das sie gegen weitere Ausdehnung oder vielmehr Verehrlichung des Wahlrechts aufrichteten, anzugreifen Miene macht. Das Kriegsgeschrei gegen Rußland ging wirklich aus der „westlichen Civilisation“ des Volkes hervor. Die Minister und das Parlament gaben diesem Schrei Gehör, um ihr Sebastopol zu schützen und die „Reformen“ zu Hause durch „Manoeuvres“ zu zerstreuen. So war ihr Krieg eine Diplomatie der innern Politik, ein Spaß; aber man dachte zugleich auch, halb Ernst zu machen, um Rußland, das die englische Politik seit Menschenaltern unterstützt hatte und nun zu weit gehen zu wollen schien, bei der Theilung der Hinterlassenschaft des „kranken Mannes,“ nicht zum Haupterben werden zu lassen. Die Cholera im friedlichen Heere bei Varna u. s. w. und das rebellische Geschrei, besonders der Franzosen, daß man lieber im ehrlichen Kampfe wie ein Mann sterben wolle, machten aus halb Spaß, halb Ernst ganzen Ernst und die Krim-Expedition. Von nun an wurde „die Geschichte“ Feldmarschall und wird weiter commandiren, vielleicht auch „das Haus der Gemeinen.“

Die letzte von Russel, in Folge einer allgemeinen Agitation angebrachte Reformbill, obwohl nur ein Schatten und Schemen, wurde in der vorigen Parlaments-Sitzung auf den Vorschlag Palmerston’s unter allgemeinem Jubel beinahe einstimmig zum Hause hinaus geschrieen: „weil Krieg ist.“ Da das Parlament und besonders die eigentlich gesetzgebende Versammlung im Hause der Gemeinen nun auch die wichtigsten andern Reformen, welche die „westliche Civilisation“ verlangte, abwies, kann man der ganzen regierenden Körperschaft Englands ein gewisses Russenthum gegen das eigene Land nicht absprechen. Das sehr complicirte und widerspruchsvolle Verhältniß der regierenden Körperschaft Englands in diesem Kriege läßt sich in einfachster Form so darstellen: Scheinkrieg gegen Rußland, um unser Rußland zu Hause zu erhalten, Scheinkrieg mit der Miene des Ernstes, damit Rußland für unsere Handelsinteressen nicht zu weit gehe, Scheinkrieg aber so, daß man im schlimmsten Falle doch Ernst machen kann, aber nur im schlimmsten Falle, wenn alle unsere Friedenskünste bis zum letzten Witze erschöpft sein sollten, aber auch dann nur so, daß Rußland als Bürgschaft der conservativen Interessen in Europa nicht wesentlich geschmälert und geschwächt werde, endlich Unfähigkeit, den halben Schein und halben Ernst in seinen Konsequenzen und in der Gewalt der wirklich tapfern Soldaten und Offiziere, der noch tapferen Geschichte aufzuhalten, deshalb feiger Gedanken bängliches Schwanken, ohnmächtiger und immer ohnmächtiger kämpfend gegen die diplomatisch heraufbeschworene Krisis.

Das „Haus der Gemeinen“, obgleich der eigentliche König Englands, kann darin nichts mehr ändern. Es wird wie das Ministerium von dem Strome der Ereignisse getrieben, und jedes Mitglied liest eifrig jeden Morgen die Zeitung, ob der Telegraph keinen Trost, keinen Halt, keine Entscheidung irgendwoher gebracht habe, denn die ganze vielgliedrige Regierung weiß oder fühlt wenigstens, daß der Geist und die Macht von ihnen gewichen, seitdem die Cholera, die Rebellion, die Commandeurs, die Kanonen zu commandiren angefangen und die vielverletzten Grundlagen des europäischen Gleichgewichts und Friedens von 1815 vollends durchlöchert haben.

Das Haus der Gemeinen vertritt nicht Volk, nicht Klassen, nicht Demokratie, nicht Constitutionalismus, nicht Absolutismus, sondern große Geldmassen, die in der Industrie und dem Handel angelegt sind, gegen das aristokratische Interesse des großen Grundbesitzes. Der Baumwollen-Lord und der Lord des Grundes und Bodens sind die einzig wahren und wichtigen Parteistoffe.

Die Hauptinteressen im Unterhause zerfallen in folgende Bestandtheile:

1) Shopkeepers (Besitzer offener Detailgeschäfte, Läden), mit Solchen, die Häuser vermiethen und verpachten, vorherrschend in den meisten Wahlbezirken Londons, von Bath, Cheltenham, Brighton, Universitätsstädten und Folkesstone. Vertreten durch 22 Mitglieder des Unterhauses.

2) Interessen großer Fabrikanten, a) der Baumwollen-Industrie in Manchester, Preston, Stockport, Blackburn, Bolton, Oldham, Leicester, Wigan, Salford, Bury, Ashton, Rochdale und Clitheron in England, und Glasgow und Prisley in Schottland. Vertreten durch 24 Mitglieder. b) der Wolle in Leeds, Bradford, Stroud, Halifax, Huddershield, Wakefield, Tiverton, Kendale und Frome in England und Montgomery in Wales: 15 Mitglieder c) Seide in Norwich, Nottingham, Derby, Mecclesfield, Coventry und Taunton: 12 Mitglieder. d) Hartwaaren (Eisenindustrie) in Birmingham, Sheffield, Wolverhampton, Dudley und Valsall: 8 Mitglieder. e) Töpferei und Glasindustrie in Stoke und Warrington: 3 Mitglieder. Cidderminster und Wilton sind die Orte der Teppichfabrikation, aber in ersterem dirigirt Lord Ward, in letzterem die Pembroke-Familie die Wahlen.

3) Die Bergwerks- und Minen-Interessen senden von Newcastle, Durlam, Sunderland, Gateshead, Süd-Shields und Tynemouth 9 Vertreter. Dazu kommen aus Minendistrikten von Wales noch 7, zusammen 16 Vertreter. In den Händen der Regierung sind die Wahlen an folgenden Orten: Portsmouth, Devonport, Chatam, Sandwich, Darmouth, Leith, Greenwich, Dover, Rochester, Plymouth und Falmonth, aus denen sie sich 21 Vertreter kauft. Die großen Seehäfen mit ausgedehnter Aus- und Einfuhr: Liverpool, Bristol, Hull, Dundee und Greenack, wo allgemeine wirkliche Kultur-Interessen zur Majorität kommen könnten, sind theils von der Regierung, theils von großen Dampfschiff-Compagnien (besonders in Southhampton) beherrscht und senden 10 Mitglieder. Von Yarmouth, Colchester, Harwich, Hastings, Scarborough, Whitby und Aberdeen wählen 12 Mitglieder für das Interesse der Küsten-Fischerei. Die zahlreichen andern Hafenstädte von Chester bis Lymington stehen unter den mannigfaltigsten Einflüssen anderer Interessen.

In London, Edinburg, York, Exeter und Shrewsbury haben die gebildeten Mittelklassen einigen Einfluß auf die Wahlen, sonst nirgends, die Millionen unter den Mittelklassen haben zu drei Viertheilen gar keine Stimme, oder wenigstens keinen Einfluß.

Von den 99 übrig bleibenden Wahldistrikten stehen noch 42 fest unter aristokratischem Einflüsse, d. h. sie werden gekauft und bearbeitet im Interesse des großen Grundbesitzes zu wählen, und die übrigen 57 unter einem Wirrwarr örtlicher Einflüsse, in denen aber stets die großen Kapitalisten und großen Grundbesitzer vorherrschen. Wales wählt 9 Mitglieder, von denen 5 der Aristokratie und 4 dem großen industriellen Kapital dienen. Die 14 übrigen schottischen Mitglieder vertreten Schifffahrt und großes industrielles Kapital. In Ireland herrschen katholisch-ultramontane und hierarchisch-revolutionäre Interessen bei den Wahlen vor.

Ueberhaupt besteht die Zahl der politisch berechtigten und einflußfähigen Personen unter den 22 Millionen Bewohnern Englands aus nicht mehr als etwa 25,000 Personen. Alle andern sind politisch Nullen, die sich zwar durch Presse, Versammlungs- und Redefreiheit vertreten und auch oft so geltend zu machen wissen, daß die 25,000 deren Majorität durch ihre Vertreter im Unterhause wirklich anerkennen, aber ohne große, bedeutende Veranlassungen und Aufregungsstoffe bleibt die Menge ruhig und einflußlos, da sie freiwillig unter der milden und ungemein einschmeichlerischen Herrschaft einer ungeheuer reichen Hochkirche, einer ungeheuer reichen Grund-Aristokratie und einer ungeheuer reichen Körperschaft von industriellen Kapitalisten sich in ihren Versammlungen, Vereinen, Bildungs-Instituten aller Art leiten und lenken läßt. Dabei werden die Regierenden mächtig durch die Tagespresse unterstützt. Es giebt keine große Tageszeitung, welche unabhängig und ohne besondere Interessen dem wirklichen Gemeinwohle das Wort redete. Und insofern auch einige gegen die monströsesten politischen und socialen Verhältnisse Opposition machen, alle zusammen sind

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_568.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)