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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

schlechten wie im guten Wetter mit der Guitarre umhergelaufen und allen Rohheiten des Haufens ausgesetzt war, die große Dame spielen gelernt. In engern Kreisen, wo sie sich mehr gehen ließ, schlug freilich sehr häufig die Erziehung der pariser Straßen durch und man vermißt an ihr die feine Sitte, die Zartheit des Gefühls, die man sich, wie es scheint, nicht angewöhnen und nicht anlernen kann, wenn man sie nicht mit der Muttermilch eingesogen. Die idealere Lebensanschauung fehlt der berühmten Schauspielerin gänzlich. Sie ist aber nicht verantwortlich für diesen Mangel; weder ihre häusliche Umgebung, in der sie emporgewachsen, weder die untere Sphäre, in der sie ihr Bestes aufgeben mußte, um wenig Geld zu gewinnen, noch die vornehme Welt, wo eben auch die Selbstsucht vorherrscht, mochten ihr eine Schule höherer Anschauungen sein. Ihre literarischen Freunde beklagen sich und mit Recht, daß der dramatischen Künstlerin aller Sinn für Kunst und Poesie abgehe. Die ehemalige Sängerin in den Kneipen langweilt sich und schläft ein, wenn man ihr Shakespeare oder Goethe vorliest. Sie zieht dieser Unterhaltung ihr Lieblingsspiel „Lotterie“ in einer Gesellschaft mir sehr schätzenswerthen Frauen vor. Aber sie ist so gewandten Geistes, so taktvoll, so überaus fein und geschmeidig, daß sie sich sogar im „Abbaye-aux-Bois“ wo Madame „Récamier“ die intime Freundin Chateaubriand’s, die auserlesenste, theils weltliche, theils geistliche Gesellschaft von Paris um sich versammelte, mit Glück zu bewegen wußte. Hier versuchten einige devote Gräfinnen Fräulein Rachel katholisch zu machen; allein sie widerstand der Bekehrung und blieb Jüdin nicht ohne eine gewisse Anhänglichkeit an ihren Glauben und mehr noch an ihren Stamm.

Als sie sich einst im Abbaye-aux-Bois mit dem Erzbischof von Paris zusammenfand, drückte der würdige Prälat sein Bedauern aus, daß er sie nie zu hören Gelegenheit gehabt und äußerte die Bitte, daß sie irgend etwas vortrage. Sie sprach den Monolog aus Polyeukt von Corneille, der mit den Worten schließt, die durch sie so berühmt geworden: „Ich sehe, ich weiß, ich glaube.“ Der Erzbischof war auf’s Tiefste erschüttert und konnte gar nicht genug seine Bewunderung aussprechen.

Dankbar erinnert sich die berühmte Schauspielerin der gastlichen Aufnahme, welche sie in dem Hause ihres Meisters, des Herrn Samson gefunden und der außerordentlichen Dienste, welche er ihr geleistet. Sie läugnet es nicht, daß sie ihm zum größten Theil ihr Emporkommen verdanke. Sie erzählt, daß sie bei Samson’s das erste wohlschmeckende Mahl eingenommen und in Berührung mit gebildeten Menschen kam, deren Nähe ihr wohlthat und sie erhob.

Als Herr Samson mit seiner Familie des Sommers in Charanton, einem Dörfchen bei Paris wohnte, geschah es, daß Fräulein Rachel später als verabredet war, zum Unterricht kam. Auf die Frage des pünktlichen Meisters nach dem Grund dieser Verspätung, gestand das Mädchen wehmüthig, daß sie nicht mehr als ein Kleid im Vermögen habe und warten mußte, bis es gewaschen war, um anständig erscheinen zu können. – Eine freundliche Beziehung bildete sich zwischen der Tochter des Herrn Samson und der Schauspielerin, mit der sie im gleichen Alter war. Die jungen Mädchen mochten sich gerade durch die Verschiedenheit ihrer Stellungen zu einander hingezogen fühlen. Wie wenig die arme Jüdin um jene Zeit von den Gesetzen der Schicklichkeit auch nur eine Ahnung hatte, mag folgender Zug beweisen.

Eines Tages kam sie zu Samson’s und fand ihre junge Freundin mit deren Aeltern beisammen. Sie grüßte diese und reichte Jener die Hand, bei welcher Gelegenheit sie dem Mädchen geheimnißvoll ein Papier zusteckte. Dieses ließ mit weiblichem Instinkte von dem was geschehen, nichts merken, entfernte sich auf eine Weise, die nicht auffiel, um nachzusehen, was das Papier zu bedeuten habe. Wie groß war ihr Erstaunen, als sie darauf eine ernste Liebeserklärung von Herrn Berton geschrieben fand, der sie nachmals heirathete und der, ein Zögling des Herrn Samson, in’s Haus kam und sie zu sehen Gelegenheit hatte.

Fräulein Samson, ein wohlerzogenes Mädchen, machte der Schauspielerin ernste Vorstellungen wegen des Ungeziemenden dieses Thuns.

„Aber liebe Rachel,“ sagte Fräulein Samson, „wie können Sie sich zu so etwas brauchen lassen? Und vergessen, daß Ihnen meine Aeltern die Thüren des Hauses gastlich geöffnet?“

Da fing die ehemalige Sängerin bitterlich zu weinen an und versetzte: „Ich habe geglaubt, Ihnen damit ein Vergnügen zu machen.“

Eine pariser Berühmtheit, zielt Fräulein Rachel auch außer der Bühne auf Effekt. In ihrem Salon findet man eine alte Guitarre an der Wand ausgehängt, angeblich dieselbe, welche ihr einst zu ihrem kümmerlichen Broterwerb gedient und die sie als eine Reliquie ihrer traurigen Vergangenheit präsentirt. Es ist indessen ausgemacht, daß dieses Instrument bereits zwei, drei Mal nachgekauft wurde, da das echte durch irgend einen Zufall längst abhanden gekommen.

In Paris gehört die Komödie zu jedem Handwerk. Napoleon I. hat sich von Talma Stellungen und Mantelwurf einstudiren lassen, um sich dem Volke in kaiserlicher Haltung darstellen zu können.

Die schönste Seite an dem Privatleben der Schauspielerin ist die Anhänglichkeit an ihre Familie; darin verläugnet sie ihren Stamm nicht, der wie kein Anderer die Bande des Blutes heilig. Das Verwandtschaftsgefühl hat sogar über ihren Hang zum Golde die Oberhand.

Als sie kürzlich die Nachricht von der bedenklichen Krankheit ihrer Schwester Rebecca erhielt, die sich in den Pyre, im Bade (eaux bonnes) befand, reiste sie unverzüglich dahin ab, ob sie gleich auf dem Anschlagzettel als Adrienne Lecouvreur in dem Stücke gleiches Namens angekündigt war, und sich der Kaiser für die Vorstellung hatte anmelden lassen. Der Tod dieser Schwester hat sie auf’s Schmerzlichste ergriffen, und ihre Thränen waren ungekünstelt.




Blätter und Blüthen.

Bärenjagden in Rußland. Wer jemals im Winter in Petersburg war, wird gewiß von Einladungen zu Bärenjagden und diesen selber zu erzählen wissen. Die Jagdclubs der russischen Hauptstadt machen jeden Winter große, kostspielige, glänzende Touren bis tief nach Finnland hinein, um Bären zu jagen. Sie haben Bauern in ihrem Solde, welche Bären im Winterschlafe aufsuchen und dann Bericht erstatten müssen. Der Bär liegt im Winter in seiner Höhle, nicht sowohl fest schlafend und von seinem Fette lebend, wie die Sage geht, sondern singend und gemüthlich brummend, während er sich an den Pfoten saugt, wie ein „Daumenlutscher“ in der Wiege. Dieser Gesang mit Hungerpfotensaugen verräth ihn den Bauern. Sie berichten, und nachdem Braun mit Hülfe anderer Bauern durch Geschrei und allerhand Stimmen- und Instrumentallärm aufgestört ist und schlaftrunken Anstalt macht, zu sehen, was los sei, umzingeln ihn die Jäger, um ihm beim ersten Erscheinen eine gute Menge blaue Bohnen auf den Pelz zu brennen. Doch schießen die Meisten zuerst blind, da nach den ersten Schüssen Gefahr und Jagd erst beginnen. Für so dumm man auch den Bär hält, er hat Mutterwitz. Merkwürdig und seinem Scharfsinne Ehre machend ist der Umstand, daß er allemal schnurstracks auf den Jäger zustürzt, der ihn zuerst getroffen. Schon haben zwanzig Jäger auf einmal geschossen, neunzehn blind und nur einer mit Ladung, es ist niemals gelungen, den Bär in sofortiger Ausfindung seines Feindes zu täuschen. Auch behält er diesen allein im Auge, so viele ihn auch auf dem Wege seiner Verfolgung treffen. Der träge Bursche ist in seinem Sturze auf den Feind so fabelhaft schnell, daß eben so viel Geschick als Geistesgegenwart dazu gehören, ihn unterwegs zu erlegen.

Ein Engländer, den wir in London kennen lernten, wußte eine drastische Geschichte mit einem drastischen Beweise von der furchtbaren Schnelligkeit des angeschossenen Braun zu erzählen. Er war im December 1852 mit einer Gesellschaft von etwa zwanzig Russen, Engländern und Deutschen von Petersburg aufgebrochen, um in Finnland eine große Bärenjagd mitzumachen. Zwischen Wäldern und Wüsten, Bergen und gefrornen Seen erfuhren sie durch einen Muschick, daß ein Sänger und Daumenlutscher mitten in einem Fichtenwalde entdeckt worden sei. Aus seiner Höhle herausgetrieben sah er sich erst eine Zeit lang um und schenkte Jedem der rings um ihn her stehenden Jäger einige Aufmerksamkeit, doch ohne besonderes Interesse an ihnen zu verrathen. Die Jäger winkten sich zu und den Kreis etwas enger ziehend machten sie Anstalt zum Feuern. Die Schüsse fielen. Der Bär stand ein Paar Secunden, als ginge ihn dies gar nichts an. Dann war er plötzlich mit wenigen Sätzen vor den Augen des Engländers, der seinen zweiten Schuß applicirte und floh. Der Bär, obgleich von beiden Kugeln gut getroffen, verfolgte den Engländer doch mit solcher Furie und Eile, daß er ihm beinahe auf den Fersen war, als ein Nachbar von 40 Yards Entfernung ihm ein Kugel durch die Rippen sandte. Ein dumpfes Geheul war Alles, was er als Quittung für diese Zahlung von sich gab, im Uebrigen setzte er seine Verfolgung fort. Schon hörte der Engländer die Bestie hinter sich schnauben, so daß er mit den letzten Resten seiner Kraft weiter sprang, dabei aber über eine Baumwurzel in den Schnee hinstürzte. Wenn der Bär seinen Feind nicht „umarmen“ kann, (oder ehe er’s thut), schlägt er mit seiner Vordertatze nach dem Kopfe und reißt, wenn er trifft, alles Fleisch bis auf die Knochen herunter. Hat er ihn unter sich, schält er zunächst mit einer unglaublichen Geschwindigkeit das ganze Gesicht ab, das ihn mit seinem menschlichen, geistig überlegenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_575.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)